Es gibt ohne Zweifel Grundsatzkonflikte in der Schule. Ich beziehe mich mit diesem Titel allerdings auf ein Buch Helmut Schelskys aus dem Jahr 1973.
Helmut Schelsky (1912 – 1984) war ein deutscher Soziologe. Die Universität Bielefeld bezeichnet ihn als Denker der „skeptischen Generation“ und „Stichwortgeber des Zeitgeistes“. Mit den Positionen Schelskys kann man sich kritisch auseinandersetzen, aber darum soll es hier nicht gehen. Vielmehr möchte ich Auszüge aus seinem Buch „Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung“ zitieren, die im Kontext zur schulischen Bildung stehen. Vorab: Es ist bemerkenswert, dass vieles, was Schelsky im Buch beschreibt – nicht nur bezogen auf Schule – heute, also mehr als 50 Jahre später, aktueller denn je erscheint.
Das Buch wurde unter der ISBN 987-3-907347-37-9 im Januar 2025 neu aufgelegt und um ein Vorwort, welches Dr. Hans-Georg Maaßen verfasst hat, erweitert.
Vor etwas mehr als fünfzig Jahren erschien das vorliegende Buch von Helmut Schelsky Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung“. Es ist eine Sammlung von Aufsätzen eines der renommiertesten westdeutschen Soziologen in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik.
Dieses Werk ist einer der wenigen politischen Schriften, die zwar in ihrer jeweiligen Zeit für diese Zeit geschrieben wurden, aber die über ihre Zeit hinaus von Bedeutung sind oder bei denen die politische Bedeutung in einer späteren Zeit sogar noch größer ist als zuvor. Heute werden wir vor den vorläufigen Ergebnissen der von Professor Schelsky vorhergesehenen Systemüberwindung konfrontiert.
Im Zentrum des Buches steht der Artikel Die Strategie der ,Systemüberwindung‘ – Der lange Marsch durch die Institutionen“. Dieser Beitrag war von Schelsky bereits zwei Jahre zuvor, nämlich 1971, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht worden. Schelsky muss von der enormen Wirkung seines Artikels überrascht gewesen sein, so dass er sich entschied, ihn in einem eigenen Buch zu veröffentlichen. Seine Schrift fand bereits vor seiner Veröffentlichung als Buch eine Verbreitung von über eine Million Exemplaren. Sie wurde Pflichtlektüre in Ministerien, im Bundesamt für Verfassungsschutz und bei Offizieren der Bundeswehr, etc.
Die politische Linke versuchte Schelsky zu ignorieren und reagierte erwartungsgemäß diffamierend. Wir werden sehen, welche Wirkung die Wiederauflage dieser Schriften hat, nun erweitert mit einer Einführung des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes (2012 – 2018) und Vorsitzenden der WerteUnion, Dr. Hans-Georg Maaßen.
Helmut Schelsky | Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung | 1. unveränderte und kommentierte Wiederauflage, Deutsch, 01/2025 | Abdruck auf der Rückseite
Wissenschaftliche Darstellung vs. Allgemeinverständnis
Schelsky beschreibt in seinem Vorwort die Problematik des Allgemeinverständnisses. Bevor ich mich dem zuwende, sei gesagt, dass mich das Lesen des Buches viel Mühe gekostet hat. Soziologen scheinen, ähnlich wie Philosophen, den Hang zu Schachtelsätzen zu haben. Teilweise erstrecken sich Sätze über halbe Buchseiten und haben mehr Kommas als Wörter. Als durchaus der deutschen Sprache mächtig, ist diese Art zu schreiben, für mich wirklich herausfordernd gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil beim Lesen kontemporärer Fachliteratur die Erfassung mehrfach verschachtelter Sätze in Ermangelung selbiger nicht mehr ausreichend trainiert wird, wobei ich den offensichtlichen intrinsischen Widerspruch zwischen Aussage und Darstellung in diesem Satz verstanden und bewusst in Kauf genommen habe.
Schelsky stand vor einem ähnlichen Problem wie Lehrer in der Schule, nämlich Sachzusammenhänge adressatenorientiert zu vereinfachen, ohne sie zu verfälschen. Aus fachwissenschaftlich-soziologischer Sicht zielen die Vorwürfe dahingehend darauf ab, dass der Autor keine exakte Unterscheidung des Demokratieverständnisses im geschichtlichen Kontext vornimmt. Diese geforderte Unterscheidung (auch im Bezug zu anderen behandelten Tatbeständen) ist praktisch immer richtig, führt aber letztlich dazu, dass immer wenigere immer über immer weniger etwas wissen. Wenn die Wissenschaft nur um sich selbst kreist und die kritische Prüfung an der bzw. Rückübersetzung in die Praxis unterlässt, schafft sie Raum für Ideologen, die so stark vereinfachen, dass die eigentlichen Aussagen ad absurdum geführt werden.
Der lange Marsch durch die Institutionen
Schelsky geht in seinem Buch immer wieder auf die Problematik der Besetzung von Schlüsselpositionen ein, soll heißen, dass eine Überwindung des kapitalistischen Systems, wie es bereits 1917 mit der Oktoberrevolution oder dem Aufbau des Sozialismus nach 1945 im Osten Europas geschehen ist, als ungeeignete Mittel erscheinen und diese Revolution „von hinten durch die kalte Küche“ stattfinden muss.
Nun kann man die Frage aufwerfen, was echte Schlüsselpositionen sind. Schelsky stellt fest, dass es neben den offiziellen Vertretern eines linken Radikalismus eben viele Gruppen gibt, die auch ohne organisatorische Bindung dieser Gruppe angehören. Genannt werden große Teile der Journalisten, jüngere Theologen, Studenten- und Assistentensprecher der Hochschule und – womit wir beim Thema dieses Blogs sind – Teile der jüngeren Lehrerschaft, die sich dessen oft gar nicht bewusst sind.
Diese „Revolution von innen“ beginnt unter anderem in den Bereichen Sozialisation und Kommunikation, meint in allen Einrichtungen der Erziehung und Bildung. Folglich ist es im Interesse derer, die so vorgehen, alle Schlüsselpositionen zu besetzen. Der langfristige Erfolg geht über die passende Beeinflussung der heranwachsenden Generation.
Information galt bereits in den 70ern, als dieses Buch erstmalig erschien, als das entscheidende Produktionsmittel, dessen Monopolisierung mit Blick auf die Durchsetzung der Herrschaft geeignet erscheint. Aus heutiger Sicht stellt sich dieser Fakt noch viel klarer dar, schauen wir nur auf die lückenhafte und politisch wohlwollende Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder als Gegenpol die vielfältigen Möglichkeiten der Gewinnung von Informationen über die neuen Medien und den ganz offensichtlich damit einhergehenden Kampf gegen „Hass und Hetze“, was ein eigenes Thema wert wäre.
Bereits Schelsky stellt fest, dass die Menschen sich nahezu vollständig über Papier, Ton und Bild informieren, womit einher geht, dass die Beherrscher dieser Medien letztlich die Herrscher über die Menschen sind. Heute spricht man gern vom politischen-medialen Komplex als Instrument zur Sicherung der Macht.
Schlagen wir einen Bogen zur Schulbildung. Das Bildungsmonopol stellt sicher, dass der Staat zu jeder Zeit die Hoheit über die personelle Ausstattung der Schulen mit Lehrern sowie die inhaltliche Autorität in Form der Lehrpläne hat. Das hat wie vieles zwei Seiten. Einerseits – so die Grundidee – wird die Allgemeinbildung sichergestellt, da wirtschaftliche Interessen außen vor bleiben, andererseits besteht durch die o. g. Hoheit über Personal und Inhalt eben auch die Gefahr der Nutzung schulischer Bildung zur Sicherung der eigenen Macht. Damit wird klar, warum beim Marsch durch die Institutionen gerade die Besetzung der Schlüsselstellen in der Schulbildung so wichtig ist.
Grundsatzkonflikte in der Schule: Demokratie vs. Freiheit
Am 28. Oktober 1969, eine Woche nach seiner Wahl zum Bundeskanzler, steckt Willy Brandt den Kurs der neuen Regierung ab, die erstmals von SPD und FDP gebildet wird.
Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, daß nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
https://www.willy-brandt-biografie.de/wp-content/uploads/2017/08/Regierungserklaerung_Willy_Brandt_1969.pdf
Schelsky kritisiert dies insofern, als für ihn damit eine Einschränkung von Freiheit einhergeht. Wie konkret gestaltet sich denn „mehr Demokratie“ aus? Es ist nicht viel mehr eine Demokratisierung aller Lebensbereiche? Wenn immer und überall alles demokratisch abgestimmt wird, wo bleibt dann die individuelle Freiheit?
Die Sachprobleme treten zugunsten der Nutzung von Institutionen für den Machterhalt zurück, so werden u. a. Schulen zum „Kampfplatz“ für Herrschaftsabsichten, so Schelsky.
Schauen wir heute in die Schulen. Die Allgemeinbildung ist mittlerweile nur noch ein kleiner Teil der schulischen Bildung. Ein politisches Bekenntnis tritt zunehmend in den Vordergrund, getarnt unter dem Begriff „Demokratieerziehung“. Kann man junge Menschen zur Demokratie erziehen oder ist es nicht viel mehr ein Prozess, den Kinder und Jugendliche während und ausgangs der Schule basierend auf Allgemeinbildung durchlaufen? Ich finde bspw. den Aufruf der nordrhein-westfälischen Bildungsministerin, als Schulen an den Demos gegen rechts teilzunehmen, recht fragwürdig.
Für mich steht hier die Frage im Raum, ob es um eine legitime Stärkung der Demokratie oder vielmehr um Machterhalt geht.
Nach Schelskys Überzeugung hängen Freiheit und Demokratie ganz wesentlich davon ab, dass sich in den Institutionen, zu denen Schule zweifelsfrei zählt, ein Führungspersonal befindet, das unabhängig von Parteipolitik bereit ist, seine persönliche und berufliche Initiative in die Führung des betreffenden Instituts zu stecken. Stellt man nun aber fest, dass das Gegenteil der Fall ist, so steht die Institution zurecht in der Kritik. Gerade im Bezug zu Schule besteht das Problem darin, dass Beamte diese Aufgaben erfüllen. Diese sind einerseits zur Loyalität ihrem Dienstherren gegenüber verpflichtet, haben aber gleichzeitig eine Remonstrationspflicht. Sie müssen bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer Anweisung Einspruch erheben; wird die Anordnung daraufhin bestätigt, müssen sie diese ausführen, sind aber von der Verantwortung befreit (außer bei strafbaren oder die Menschenwürde verletzenden Handlungen). Wenn nun aber der Staat restriktiv gegen Beamte vorgeht – Beispiele dazu lassen sich finden – dann gilt die alte Weisheit vom Bestrafen des einzelnen als Mittel zur Erziehung vieler. Genau an dieser Stelle sehe ich die Unabhängigkeit der Lehrer in großer Gefahr, wenn diese nicht bereits sogar (in Teilen) abgeschafft ist.
Fazit
Wenn ich vorstehendes Kapitel in einem Satz zusammenfassen müsste, hieße es: „Qui docet, regit.“ Diese Binsenweisheit ist Chance und Risiko zugleich.
In diesem Bewusstsein sollte für jeden Lehrer der Kantsche Satz „Sapere Aude!“ gelten. Wer seinen gesunden Menschenverstand nutzt und sich seiner Macht bzw. Verantwortung bewusst ist, kann viel zur Allgemeinbildung und Erziehung unserer Kinder zur Mündigkeit beitragen. Bei allen einengenden Rahmenbedingungen in unseren Schulen besteht noch immer genügend Spielraum, Humboldts Ideal zu verfolgen. Es bedarf nur des Mutes, das eigene Denken in den Mittelpunkt zu stellen und unsere Kinder politisch neutral zu bilden und zu erziehen. Niemand greift in die pädagogische Freiheit des Lehrers ein, auch wenn es immer wieder Versuche dazu gibt. Nutzen Sie diese Möglichkeit. Vielleicht schaffen wir es, unser Bildungssystem wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Views: 1

