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Würden Kant und Humboldt in der Schule von heute sitzen, könnte es sein, dass sie sich vor Verwunderung die Augen reiben. Nicht nur der technische Fortschritt würde ihnen die Münder offen stehen lassen.

Vorlage NDS-Gesprächskreis am 19.04.2024, 18:00 Uhr „Alter Schlachthof“ in Soest:

Kant und Humboldt – ganz kurz und knapp

Immanuel Kant (1725 – 1804) ist einer der bedeutendsten Vertreter der abendländischen Philosophie. Sein Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ wird von vielen als der Beginn der modernen Philosophie erachtet.

In seinem Werk „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ von 1784 formuliert Kant den Leitgedanken der Aufklärung:

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

ebenda

Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) initiierte die Neuausrichtung der Bildung, indem er sein Bildungsideal formulierte. Zu Humboldts Zeiten erstarkte das Bürgertum in Preußen, so dass Humboldt den Anspruch auf Allgemeinbildung fördern konnte.

Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierfür erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher so leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen.

P. Berglar (1970): Wilhelm von Humboldt, p. 87

Einschränkend muss gesagt werden, dass sich dieses Ideal eher auf die Universitäten und weniger auf die Volksschulen bezog.

Um den Kreis zu Kant zu schließen, ist es wichtig zu wissen, worauf Humboldts Ideal basiert:

  • Durch den Gebrauch der Vernunft ist jedes Individuum selbstbestimmt und mündig.
  • Die Auseinandersetzung mit der Umwelt dient der Entfaltung des Subjekts. Humboldt prägt den Begriff des „Weltbürgers“, der sich mit den großen Menschheitsfragen auseinandersetzt.

Keinesfalls ist es richtig, so Humboldt, Bildung berufsbezogen und von wirtschaftlichen Interessen geleitet zu gestalten.

Humboldt – Königsberger und Litauischer Schulplan

Humboldt entwarf für die preußischen Gebiete Königsberg und Litauen einen Schulplan. Darin hieß es, dass Bildung losgelöst vom gesellschaftlichen Stand sein muss. Jeder kann einen Dreiklang aus Elementarschule, Schule und Universität besuchen. Nach Elementarschule und Schule kann jeder in die Berufsausbildung wechseln.

In der Elementarschule lernt der Mensch Lesen, Schreiben und Rechnen. Der Schüler lernt, dem Lehrer zu folgen und das Gelernte zu verinnerlichen.

Die Schule, die Humboldt „Gymnasium“ nennt (wobei dieses Wort nicht von Humboldt erfunden wurde), erteilt gymnastischen, ästhetischen und didaktischen Unterricht. Erklärend sei gesagt, dass Humboldt unter „didaktisch“ (griechisch: didaktikos = gelehrt, lehrbar) die Fächer Mathematik, Geschichte und Sprachen versteht.

Die Elementarschule stellt den Lehrer in den Mittelpunkt, wohingegen im Gymnasium der Fokus darauf liegt, dass die Ausbildung des eigenständigen Lernens zunehmend im Vordergrund steht.

Nach dem Eintritt in die Universität erfolgt zunächst ein ausschließlich wissenschaftliches Studium, Der Student folgt seinen Interessen, wird in die Forschung eingebunden und dabei von den Lehrpersonen unterstützt.

Doch dann kam PISA…

Ökonomisierung von Bildung

Humboldt hatte gefordert, dass die Universitäten finanziell unabhängig vom Staat sein müssen.

Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. […] Wer aber für andre so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, daß er die Menschheit mißkennt und aus Menschen Maschinen machen will.

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851

Wenn wir Kinder und Jugendliche nur noch nach den Anforderungen der Wirtschaft ausbilden, stärkt das vermutlich kurzfristig den Wirtschaftsstandort, führt aber langfristig dazu, dass durch fehlende Flexibilität eher negative Effekte zu befürchten sind.

Humboldt ist die Keule der Strukturkonservativen, die von denen herausgeholt wird, die nichts verändern wollen. Wir müssen ihn neu denken.

Annette Schavan, 2009

Gesellschaftliche Veränderungen gab es immer und wird es immer geben. Das bedeutet, dass auch die Bildung und die Ideen dazu weiterentwickelt werden müssen. Nicht zuletzt verändern sich die Bildungsinhalte derart, dass immer neues Wissen hinzukommt. Die Aufgabe der Bildungsforscher sollte unter anderem sein, diese Inhalte hinsichtlich der Bedeutung für die Allgemeinbildung zu analysieren.

Statt dessen wird der Anspruch auf Allgemeinbildung durch berufsorientierte Bildung ersetzt. Dadurch wird der Horizont der Schüler verengt.

Ich kann Frau Schavan nicht verstehen, wenn sie derart verallgemeinernd argumentiert. Wir sprechen von einem Ideal. Ich denke nicht, dass Annette Schavan die Bedeutung dieses Wortes nicht kennt. Humboldts Reform und sein Bildungsideal lassen genügend Raum, Bildung an die Gesellschaft anzupassen. Es geht nur um den Grundsatz der Allgemeinbildung und den Weg dahin. Wo ist da die Keule?

Die Pisa-Studie ist ein Beispiel dafür, wie wir uns immer weiter von den Humboldtschen Vorstellungen entfernen.

Humankapital – was für ein Wort

Das „Humankapital“ ist ein zentraler Begriff aus der Bildungsökonomik und beschreibt den ökonomischen Wert von Bildung. Menschen werden als Arbeitskräfte mit Maschinen, Werkzeugen und Gebäuden auf eine Stufe gestellt – streng genommen (damit es fachlich korrekt bleibt) ihre nützlichen Fähigkeiten.

Damit beschreibt Humankapital einen Teil des Individuums und nicht den Menschen insgesamt. Der Begriff kommt aus der Volkswirtschaftslehre und hat dort durchaus – trotz wie ich finde, berechtigter Kritik an dieser Wortschöpfung – eine Berechtigung.

Wenn ich nun Schule darauf beschränke, dieses Humankapital auszubilden, bilde ich damit auch nur diesen Teil der Persönlichkeit heraus. Das hat mit Allgemeinbildung nichts zu tun.

Kant und Humboldt in der Schule – ein Resümee

Würden Kant und Humboldt in der Schule sitzen, wären sie sicher entsetzt.

  • Wo bleibt der gesunde Menschenverstand in Anbetracht der aktuellen Bildungspolitik?
  • Wieso wird Allgemeinbildung auf ökonomische Bildung reduziert?
  • Wieso darf der Bildungserfolg in Zahlen ausgedrückt werden?
  • Warum können unsere Schüler in (großen) Teilen nicht mehr richtig lesen, schreiben, rechnen?
  • Warum sitzen unsere Kinder, die in ihrer Freizeit bereits viel zu lange vor Tablet und Smartphone sitzen, in der Schule erneut davor?

Was würden die „Altvorderen“ empfehlen? Immerhin könnten sie auf eine Lebenserfahrung von über 200 Jahren bauen 😉.

  • Stärkung der Grundschulen mit Blick auf das Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens. Das sollte neben Sport, Kunst, Musik und Sachkunde im Vordergrund stehen. Regelmäßiges Schreiben, häufiges Lesen und wiederkehrende Übungsphasen im Rechnen sind die Basis einer guten Bildung. Weder der Englischunterricht noch Tablets haben in den Grundschulen etwas zu suchen.
  • Abschaffung jeglicher Multiple-Choice-Tests (leider muss ich diesen Anglizismus aus Verständnisgründen verwenden, „Fragen mit Mehrfachauswahl“ wäre vermutlich für einige verwirrend). Welche Aussage lässt sich hinsichtlich der Allgemeinbildung daraus ableiten?
  • Wenn überhaupt, dann eine richtige Einordnung dessen, was die Pisa-Tests ergeben.
  • Mehr Verbindlichkeit (auch gegen den oft zitierten Elternwillen) und Langfristigkeit im Bildungssystem. Die Bildung der Kinder darf nicht weiter der Spielball von Politikern und Ökonomen sein.

Die Liste ließe sich fortsetzen.

Mir ist völlig klar, dass ich hier nur meine Sicht der Dinge wiedergebe. Bildung im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen ist ein komplexes Thema. Allerdings ist es sicher hilfreich, die Frage aufzuwerfen, was das Wort „Gesellschaft“ überhaupt bedeutet. Genauso, wie die Gesellschaft auf die Bildung einwirkt, wirkt die Bildung auf die Gesellschaft zurück. Bei Letzterem sind wir meiner Meinung nach in einer Sackgasse gelandet.

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Von sp

12 Gedanke zu “Kant und Humboldt in der Schule”

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