Da diese Seite zwingend modern sein muss, habe ich das Thema „YouTube for education – failed“ dieses Mal auf englisch gewählt. „Der Einsatz eines YouTube-Videos im Unterricht ist gescheitert“ – klingt doch viel zu langweilig und spießig. Finden Sie nicht?
Es ist sicher einen eigenen Beitrag wert, die sinnlose „Verenglischung“ unserer Sprache zu diskutieren. Aber geben Sie es ruhig zu – die Überschrift hat Sie angesprochen, richtig?
In diesem Beitrag geht es darum, wie Schülerinnen und Schüler einer Jahrgangsstufe 7 (drei Klassen) aus einem recht einfachen Video Informationen entnehmen konnten – oder eben nicht.
Hier ist zunächst das Video, um das es geht:
Die Lehrkraft (Chemie-Unterricht) hat dazu vorab folgende Fragen gestellt, die es zu beantworten galt:
- Welcher Anteil der Erde ist mit Wasser oder Eis bedeckt?
- Zu welchem Anteil bestehen Menschen aus Wasser?
- Wer treibt den Wasserkreislauf der Erde an?
- Wie nennt man den Wechsel des Aggregatzustands von flüssig zu gasförmig?
- Welche Farbe hat Wasserdampf?
- Wie nennt man den Wechsel des Aggregatzustands von gasförmig zu flüssig?
- Was führt zur unterschiedlichen Verteilung der Wassermenge auf der Erde?
- Wie nennt man es, wenn der Niederschlag nicht mehr gut in den Boden sickern kann?
- Wofür verwenden Menschen Wasser?
Entscheiden Sie selbst, welcher Schwierigkeitsgrad das ist. Schauen Sie sich das Video an und versuchen Sie, die Fragen zu beantworten. Noch nicht weiterlesen – erst beantworten, nicht schummeln!
Wer zugehört und die eingeblendeten Informationen gelesen hat, hat die Lösungen auf einfache Weise gefunden. Vermutlich ist für die Beantwortung der Majorität der Fragen das Studium des Videos gar nicht notwendig.
Jetzt werden Sie sich fragen, was der Artikel soll. Beginnen möchte ich mit der Einordnung dessen, was passiert ist, durch die Fachlehrkraft sowie dem Ablauf der Stunden.
Grundannahmen:
- Das Thema Wasserkreislauf ist Grundschulstoff.
- Das Thema wurde in Erdkunde wiederholt.
- „Aggregatzustände und ihre Übergänge“ wurde im 1. Halbjahr in Chemie behandelt.
- Die Sprache im Film ist sehr einfach gehalten.
- Die eingeblendeten Stichworte wurden im Film ausreichend lang gezeigt.
- Die Lautstärke und die Bildqualität bildeten gute Voraussetzungen, den Film bis in die letzte
Reihe verstehen zu können.- Das Aufgabenformat „Fragen zum Film“ war bekannt.
- Mit der Benotung der Arbeitsblätter war erfahrungsgemäß zu rechnen.
Ablauf:
- Am Unterrichtstag wechselten alle drei 7er-Klassen in den jeweiligen
Chemiestunden in die Informatikräume, um den Film zu sehen.- Nach dem Austeilen der Arbeitsblätter wurden die Fragen zum Film von verschiedenen SuS
laut vorgelesen.- Der Film wurde zweimal hintereinander ohne Unterbrechungen gezeigt. Die SuS sollten
währenddessen die Fragen stichwortartig beantworten.- Zwischen dem Ende des Films und dem Einsammeln der Arbeitsblätter blieben ein paar
Sekunden zur Nachbearbeitung.Bewertungsgrundsätze:
- Rechtschreibung und Grammatik wurden nicht bei der Bewertung berücksichtigt.
- Sinngemäß richtige Antworten wurden als richtig gewertet, ungenaue Antworten (z.B.:
Wofür verwenden Menschen Wasser? – Im Alltag) als falsch.
Die Bewertung basiert auf nachfolgendem Schema, die beiden rechten Spalten der Tabelle zeigen dabei das Ergebnis bezogen auf die gesamte Jahrgangsstufe an.
Punkte | Note | Anzahl | Anzahl (%) |
---|---|---|---|
9 | 1 | 10 | 14,5 |
8 | 2 | 12 | 17,4 |
7 | 3 | 8 | 11,6 |
6 | 4 | 8 | 11,6 |
4 und 5 | 5 | 23 | 33,3 |
0 bis 3 | 6 | 8 | 11,6 |
Die Lehrkraft begründete die Bewertung wie folgt:
Das gängige Notenschema habe ich nicht verwendet, denn meiner Meinung nach reicht es nicht aus, von einem einfachen, fünfminütigen Film weniger als die Hälfte zu verstehen. Als gerade ausreichend erscheint es mir, wenn jemand die sechs explizit im Film eingeblendeten Antworten zur entsprechenden Frage zuordnen kann.
Das oben beschriebene, von mir verwendete Notenschema führt zur unten folgenden Notenverteilung.
Anmerkung des Autors: Anders ausgedrückt hat die Lehrkraft ausreichende Leistungen bereits dann attestiert, wenn der Schüler in der Lage war, die Aussagen des Films zu den Fragen richtig vom Bildschirm abzuschreiben. Ich verkneife mir hinsichtlich dessen, was aus der Not heraus bereits als Realschulniveau gilt, jeden Kommentar dazu.
Würde man an dieser Stelle eine gängige Bewertung (wie bspw. in der ZP10) verwenden, sähe das Ergebnis deutlich besser aus:
Lediglich acht Kinder des Jahrgangs wären dann im defizitären Bereich einzuordnen.
Interessant erscheint an dieser Stelle zudem die Verteilung der richtigen Antworten:
Die Schlussfolgerungen der Lehrkraft waren diese:
- Etwa ein Drittel der Stufe 7 kann bereits bekannte Infomationen nicht sinnerfassend aus
einem fünfminütigen Kinderfilm entnehmen.- Vorkenntnisse auf Grundschulniveau können nicht als verwertbar vorausgesetzt werden
und/oder die auditive und visuelle Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sind extrem
eingeschränkt.- Nach gängigen, an die ZP10 angelehnten Notenschemata (s. o., zweites Kreisdiagramm) werden die erschreckenden Defizite im sinnerfassenden Zuhören und Zuschauen nicht in der Benotung deutlich.
- SuS werden dadurch von der Unterstufe durch die Mittelstufe durchgewunken, ohne die
Lerninhalte verstehen zu können. Sie sind quasi im Blindflug unterwegs.
Muss es nun heißen: „YouTube for education – failed“ oder finden Sie hier ganz andere Ursachen?
Die Lehrkraft war so freundlich, mir die obigen Informationen zur Verfügung zu stellen, wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte.
Mein erster Impuls hinsichtlich des Themas dieses Beitrages war folgender:
Aus ihrer Freizeit kennen die Kinder Videos und auch Filme/Serien, die immer dem selben Muster folgen – schnell, schnell, schnell. Was meine ich damit?
Wenn es um besagte Formate geht, ist die Abfolge der Szenen eher hektisch, wenn mich das Thema nicht sofort anspricht, wird weitergescrollt oder ein neues Video aufgerufen.
In meinem Youtube-Kanal finde ich unter „Analytics“ Auswertungen über das Zuschauerverhalten, wie z. B. diese:
55 % der Zuschauer sehen sich das Video an der Stelle um 0:30 noch an. Das entspricht dem typischen Nutzerverhalten.
YT-Studio
Das bedeutet, dass die Hälfte aller Zuschauer bereits nach 30 Sekunden ein neues Video aufruft. Nur etwa 25 % schauen das Video bis zum Schluss (in der obigen Graphik nicht zu erkennen, da der rechte Rand abgeschnitten ist).
Es ist also davon auszugehen, dass die Aufmerksamkeit der Mehrheit der Kinder nach nur kurzer Spieldauer rapide sinkt. Etwa 45 % haben den Test nicht bestanden (Noten 5 und 6), 32 % erfüllten die Anforderungen (Noten 1 und 2). Insofern passt dieses Ergebnis ganz gut zu meinen „Analytics“.
Eine der grundlegenden Weisheiten für das Lernen ist: „Von der Hand in den Kopf.“ Lesen Sie bitte diesen Beitrag dazu (das Wort „Faktencheck“ löst bei mit zwar allergische Reaktionen hervor, aber sei es drum):
Meine Ausbildung liegt 30 Jahre zurück. Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, mehrere Eingangskanäle anzusprechen – sehen, hören, fühlen beispielsweise. Der taktile Reiz ist dabei der effektivste. Das bestätigen auch Beobachtungen meinerseits, die ich im Physikunterricht der Klassen 5 und 6 gemacht habe. Immer wenn die Kinder den Physikraum verlassen haben, bleiben sie am Lehrertisch stehen (wo ich ein Experiment aufgebaut hatte) und wollten die Dinge anfassen. Der kindliche Drang, alles in die Hand zu nehmen, hat damit zu tun, dass das Gehirn bei einer Kombination aus mehreren Reizen am besten lernt. Irgendwie „wissen“ das die Kinder automatisch. Das berühmte „Finger weg, nicht anfassen!“ ist im Grunde die falsche Aufforderung.
Schreiben (bevorzugt mit einem Füllhalter) ist ebenfalls ein taktiler Reiz, der vom Sehen begleitet wird. Schreiben ist per se mehrkanalig. Wenn nun der Lehrer etwas diktiert, dann spricht er zugleich den Hören-Eingangskanal an. Anschreiben wichtiger Schlüsselwörter verstärkt den Lerneffekt.
Menschen, die beim Arbeiten leise vor sich hin sprechen, werden manchmal belächelt oder als störend empfunden. Lassen wir sie doch einfach reden, vielleicht arbeiten sie dadurch einfach besser, wer weiß das schon so genau?
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