Bildung und Erziehung sind die beiden Aufgaben, die Schule leisten muss. An erster Stelle steht die Bildung, aber ohne erzieherische Einwirkung auf die Kinder würde sie nicht funktionieren.
Meine Erziehungsthese lautet: Ich, dann eine Weile nichts. Ich denke, das bedarf einer Erklärung.
Inhaltsverzeichnis
- Erziehung – der Versuch einer Definition
- Bildung und Erziehung – Erziehungsstile
- Ich, dann eine Weile nichts
- Bildung und Erziehung – Mein Standpunkt
- Kinder als kleine Erwachsene
Erziehung – der Versuch einer Definition
Publikationen zum Thema finden sich reichlich. Ich picke mir mal teilweise sehr unterschiedliche Herangehensweisen heraus.
Soziale Handlungen, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Disposition anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder ihre als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten.
Wolfgang Brezinka
Das Wort Erziehung wird als Sammelbezeichnung für alle erfolgreichen und erfolglosen Versuche verwendet, das Verhalten von Mitmenschen, insbesondere von Kindern, in einer gewünschten Richtung zu ändern. Zur Erziehung gehören demnach: Erziehung im Elternhaus, Unterricht, Bildung, Seelsorge, Sozialarbeit u. a.
Das Kind macht sein autonomes Selbst geltend, seine Eigeninteressen, seine eigene Sicht der Dinge. So gesehen ist Erziehung Angebot. Kinder werden (passiv!) nicht erzogen, werden nicht gefördert, werden nicht be‐handelt, werden nicht therapiert, sondern gehen aus dem Prozess der Erziehung gemäß dem eigenen Ansatz, der ontogenetischen (Ontogenese: Entwicklung eines einzelnen Organismus) Eigengesetzlichkeit mit einem eigenen Resultat hervor.
Otto Speck: Chaos und Autonomie in der Erziehung, München 1991, S. 112f.
Erziehung ganz allgemein gesehen ist eine Auseinandersetzung zwischen dem autonomen System des Erwachsenen und dem autonomen System des Kindes. Dabei werden auf beiden Seiten gemäß dem ihr eigenen Ansatz (System) Interessen ins Spiel gebracht: aufseiten des Erziehenden u. a. erzieherische ‐ was auch immer darunter verstanden werden mag ‐ aufseiten des Edukanden als eines Menschen, der sein Selbst unter erzieherischen Einfluss zu entfalten und seine Autonomie zu bewahren hat.
Erziehung ist die soziale Interaktion zwischen Menschen, bei der ein Erwachsener planvoll und zielgerichtet versucht, bei einem Kind unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und der persönlichen Eigenart des Kindes erwünschtes Verhalten zu entfalten oder zu stärken. Erziehung ist ein Bestandteil des umfassenden Sozialisationsprozesses; der Bestandteil nämlich, bei dem von Erwachsenen versucht wird, bewusst in den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern einzugreifen ‐ mit dem Ziel, sie zu selbstständigen, leistungsfähigen und verantwortungsvollen Menschen zu bilden.
Klaus Hurrelmann: Mut zur demokratischen Erziehung, in: Pädagogik 7 bis 8/94, Seite 13
Erziehung ist die planmäßige und zielgerichtete Einwirkung auf junge Menschen, um sie mit all ihren Fähigkeiten und Kräften geistig, sittlich und körperlich zu formen und zu verantwortungsbewussten und charakterfesten Persönlichkeiten heranzubilden.
Wahrig, Fremdwörterbuch 2009
Ich lasse diese Definitionen unkommentiert.
Bildung und Erziehung – Erziehungsstile
Erziehung ist so individuell, wie die Menschen selbst. Sie ist adressatenabhängig, steht immer im Kontext von Ort und Zeit und basiert auf den Grundeinstellungen desjenigen, der erzieht. So ist die Erziehung im Elternhaus eher durch das (hoffentlich) innige Verhältnis zwischen Eltern und Kindern geprägt, wohingegen in der Schule eine gewisse professionelle Distanz herrschen sollte. Das macht die Erziehung im Elternhaus ein Stück weit schwieriger, da die emotionale Bindung einfach deutlich größer ist.
Kurt Lewin hat in den 1930er Jahren ein typologisches Konzept entwickelt. So habe ich das in meinem Studium gelernt. Er unterscheidet drei Arten von Erziehung:
- autoritär
- demokratisch
- laissez-faire
Die Begriffe stehen für sich, dennoch möchte ich ein paar Erläuterungen nachschieben.
Die autoritäre Erziehung basiert auf einer gewissen „Kommandostruktur“. Der Erwachsene gibt fast ausschließlich vor.
“Demokratisch“ steht für genau das, was Demokratie ist. Alle Entscheidungen werden diskutiert und abgestimmt. Die Gruppe entscheidet.
“Machen lassen“ ist das genaue Gegenteil der autoritären Erziehung, der Erzieher ist faktisch gar nicht da, was die Bezeichnung „Erzieher“ ad absurdum führt. Es herrschen Chaos und Planlosigkeit.
Diana Baumrind führt neben der autoritären die sog. autoritative Erziehung ins Feld. Die Eltern berücksichtigen die Interessen des Kindes, besprechen die Dinge, entscheiden aber am Ende allein.
Übrigens muss man den demokratischen vom egalitären Stil unterscheiden (noch eine andere Sichtweise). Egalitär stellt Kind und Erwachsenen auf Augenhöhe. Alle Beteiligten haben gleiche Rechte und Pflichten.
Ich, dann eine Weile nichts
Diese zentrale These meiner Erziehung (übrigens mache ich keinen Unterschied zwischen privat und dienstlich) lässt sich auf die o. g. Stile abbilden.
Der autoritäre Erzieher würde die These einfach wörtlich nehmen, womit vorallem die Beziehungsebene insbesondere mit Blick auf emotionale Bindung völlig ausgelassen wird.
Der Demokrat unter den Erziehern sieht seine Rolle in der Lenkung und Leitung der erzieherischen Arbeit, die „Weile nichts“ ist je nach Standpunkt größer oder kleiner bzw. verschwindet sie beim egalitären Erziehungsstil ganz.
Autoritative Erziehung basiert letztlich ebenfalls auf meinem Motto, denn bei allem Wohlwollen hinsichtlich der Einbeziehung des Kindes entscheiden die Eltern. Die „Lücke“ ist deutlich kleiner als als bei den Autoritären, aber vorhanden.
Legt man „laissez-faire“ besonders negativ aus, entfällt von meiner These das „Ich“. „Dann eine Weile nichts“ mit Betonung auf „nichts“ charakterisiert diesen Stil für mich ziemlich treffend.
Bildung und Erziehung – Mein Standpunkt
Ich persönlich pendele zwischen im Ansatz autoritären Methoden und einem demokratisch-autoritativen Ansatz hinsichtlich der Erziehung von Kindern in der Schule hin und her.
Was bedeutet das?
Für mein Dafürhalten gibt es Situationen, in denen der Erwachsene entscheiden muss.
Warum muss ich jetzt dies und jenes genau so machen?
Weil ich es sage. Keine Diskussion!
Solche Situationen, insbesondere wenn mehrere Kinder gleichzeitig mit mir interagieren, gibt es recht häufig. Hier wären demokratische Prozesse eher hinderlich. Das Lehrern manchmal eigene Zerreden von Situationen bringt häufig überhaupt nichts. Im Gegenteil: Klare regeln und ihre unbedingte Durchsetzung schaffen Sicherheit. Das klingt zunächst widersprüchlich, bei längerem Nachdenenken darüber löst sich diese Ambivalenz aber recht schnell auf.
Bei den Situationen, die demokratisch-autoritativ behandelt werden können, spielt immer der Entwicklungsstand des Kindes eine Rolle. Einen zehnjährigen Fünftklässler muss man ganz anders einbinden als eine 16-jährige Jugendliche. Dennoch muss zu jeder Zeit klar sein, dass der grundlegende Respekt des Kindes vor dem Erwachsenen nicht zur Disposition steht. Im Übrigen muss hier die Lehrkraft ihrer Vorbildrolle gerecht werden. Klare Grundsätze gehen mit einer deutlichen Ansprache einher, dürfen aber keinesfalls verletzend oder herabwürdigend sein.
Es ist erstaunlich, dass Kinder einerseits versuchen, „ihr Ding zu machen“, andererseits gleichzeitig erwarten, dass der Erzieher sie zurechtweist.
Kinder als kleine Erwachsene
Wenn wir eine Gesellschaft von Narzissten sowie beziehungsunfähigen und lustorientierten Egoisten wollen, sind wir auf dem besten Weg dorthin.
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Die Grundlagen unseres sozialen Miteinanders sind bedroht, denn bei immer mehr Kindern ist ein fundamentaler Mangel an emotionaler und sozialer Intelligenz zu diagnostizieren. Gesellschaftliche Vereinbarungen, Mitgefühl und Verantwortung basieren aber auf einer emotional intakten Psyche. Der Kinderpsychiater, Therapeut und Bestsellerautor Michael Winterhoff legt nach. Kinder drohen nicht nur zu späteren Tyrannen zu werden, ihnen wird auch von Eltern wie professionellen Erziehern eine ausgewogene emotionale Entwicklung verwehrt. Dabei greifen falsche Strukturen und Bildungskonzepte in Familie, pädagogischem System und Politik gefährlich ineinander. Um dieser fatalen Entwicklung vorzubeugen, müssen alle, die Kinder auf ihrem Weg begleiten, eine Erziehungsaufgabe annehmen, die dem jeweiligen entwicklungspsychologischen Stand der Kinder gerecht wird. Winterhoff will der Erziehungs- und Bildungsdebatte eine neue Richtung weisen, um uns alle vor dramatischen Fehlentwicklungen zu schützen.
Winterhoff gilt in einigen Fachkreisen als umstritten. Ich empfehle dennoch, seine Thesen zu lesen, um zu einer eigenen Meinung zu kommen.
Bildung in Deutschland: eine Katastrophe. Kinder und Gesellschaft nehmen Schaden! Michael Winterhoff redet Klartext, zeigt anhand vieler Beispiele aus seiner langjährigen Praxis als Kinder- und Jugendpsychiater, aber auch aus zahlreichen Rückmeldungen zu seinen Büchern und Vorträgen, was heute in Kitas und Schulen falsch läuft – so falsch, dass in seinen Augen die Zukunft unserer Gesellschaft gefährdet ist. Leidtragende sind für ihn die Kinder, die man quasi sich selbst überlässt. Winterhoff verharrt nicht bei der Bestandsaufnahme und Analyse, er zeigt konkrete Lösungen und Maßnahmen auf und fordert u.a. eine groß angelegte Bildungsoffensive: Weg von Kompetenzorientierung und den unfreiwillig zu Lernbegleitern degradierten Lehrern, hin zu echter Bildung und Pädagogen, die den Kindern wieder ein Gegenüber sein dürfen. Denn nur die Orientierung an Bezugspersonen ermöglicht die Entwicklung von emotionaler und sozialer Psyche.
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Kinder sind weder der Partner der Erwachsenen noch besteht ein psychisch symbiotisches Verhältnis. Zum einen sehe ich es ähnlich, wie in diesem Artikel…
… zum anderen gehe ich aber noch einen Schritt weiter. Der folgende Artikel spiegelt ebenfalls meine Einstellung zum Thema recht gut wider.
Das „Hochsockeln“ von Kindern auf die Ebene der Erwachsenen überfordert die Heranwachsenden in viel zu hohem Maß. Von Kindern werden heute Entscheidungen erwartet, die sie in Ermangelung von Erfahrung und Reife gar nicht treffen können.
Das beginnt bei so profanen Dingen, wie einen Dreijährigen beim Spaziergang zu fragen, ob man nun rechts oder links herum gehen soll und endet damit, dass Eltern von Viertklässlern ihr Kind – und das habe ich des öfteren gehört – fragen, ob es sich wohl vorstellen könne, hier zur Schule zu gehen. Meine Frau berichtete kürzlich von einem Dialog im Supermarkt zwischen einer Mutter und ihrem zwei- oder dreijährigen Sohn, das sinngemäß wie folgt verlief:
Na, was sollen wir denn heute Abend essen?
Schokolade…
Nein, Schokolade ist doch nichts zum Abendessen. Soll ich Nudeln oder Reis machen?
Schokolade…
Das Ganze ging einige Zeit immer wieder so hin und her. Die Mutter hat die nicht nur temporäre Überforderung überhaupt nicht wahrgenommen. Das ist eine Form der Einbeziehung des Kindes, wo mir gelinde gesagt schlecht wird.
Bildung und Erziehung – es ist ein weites Feld, um Fontane zu zitieren. Mein Aufruf an alle Erzieherinnen und Erzieher:
Habt den Mut, eurer Aufgabe gerecht zu werden! Fällt unpopuläre Entscheidungen, wenn nötig und steht dazu! Zeigt Respekt vor den Kindern, indem ihr ihnen Grenzen aufzeigt! Zeigt aber auch Menschlichkeit, wenn ihr falsche Entscheidungen getroffen habt. Die Kinder honorieren Ehrlichkeit und fordern gleichzeitig konsequentes Handeln.
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Man kann sich natürlich die Thesen und Ansätze von Michael Winterhoff ansehen. Obwohl sie in der Pädagogik eigentlich von Anfang an kritisch gesehen wurden. Kinder- und Jugendpsychiater*innen haben außerdem schon früh vor seiner Privat-Diagnose „Frühkindlicher Narzissmus“ gewarnt, die er so gern vergeben hat und die fachlich gesehen unseriös ist, weil nicht wissenschaftlich anerkannt ist. Bleibt die Frage, warum seine Bücher und Vorträge, seine Theorien und Ansätze dennoch in der Bevölkerung auf so große Zustimmung gestoßen sind.
Gleichzeitig liegen gegen Winterhoff verschiedene Missbrauchsvorwürfe vor. Manche davon sind unumstritten. Die juristische Aufarbeitung läuft noch. Aber wer mehr Einblick in das System Winterhoff haben will, kann sich mal die Doku „Vorwürfe gegen Kinderpsychiater – Das System Dr. Winterhoff | WDR Doku“ ansehen.
Danke für den Kommentar.
Ich habe bereits im Artikel darauf hingewiesen, dass man Winterhoff kritisch betrachteten muss. Leider sind dennoch einige seiner Thesen sehr wohl nachvollziehbar. Meine 30 Jahre Lehrerdasein zeigen sehr deutlich, dass bei der Entwicklung der Kinder im Vor- und Grundschulalter einiges schief läuft.
Ich lese derzeit „Deutschland verdummt“ (ebenfalls von Winterhoff). Die darin geschilderten Zustände bilden sich in der aktuellen Situation in der Schule ab – weit unterdurchschnittlich entwickelte Kinder, deren Psyche auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes ist (obwohl sie 10 und 11 Jahre alt sind).
Ich teile nicht alles, was er schreibt, finde dennoch viele seiner Ansätze diskussionswürdig. Sein Gesamtwerk ad hominem als fachlich falsch oder unseriös zu bezeichnen, halte ich für nicht richtig.
Wie gesagt: Nur durch Lesen, vergleichen mit anderen Fachpublikationen und weitere Recherchen kann man sich eine Meinung bilden, die sich dann in der Realität prüfen lässt.
Ich glaube, dass viele Eltern gar nicht mehr wissen, was in den Schulen alles falsch läuft und – ganz nebenbei – auch gar nicht mehr erfassen, was sie selbst alles falsch machen (ungezügelter Smartphonegebrauch, um ein Beispiel zu nennen).