Das Scheitern der Grundschule mache ich daran fest, wie die Kinder der ehemaligen Klassen 4 bei uns in der weiterführenden (Real-)Schule ankommen.
Update 05.09.2024
In Bezug auf schulische Themen liefert Prof. Bernhard Krötz viel Stoff zum Nachdenken und Diskutieren, wie hier zum Thema des Beitrages:
Inhaltsverzeichnis
- Unterschied Grundschule – weiterführende Schulen
- Das Scheitern der Grundschule – Lehrplan der Grundschule – Teil 1
- Das Scheitern der Grundschule – Die inhaltsleeren Kompetenzen
- Lehrplan der Grundschule – Teil 2
- Das Scheitern der Grundschule – Fazit
Unterschied Grundschule – weiterführende Schulen
Der Übergang in die weiterführenden Schulen ist ein großer Schritt, da gibt es nichts zu diskutieren. Grundschulen funktionieren eben völlig anders, nicht zuletzt deshalb, weil sie die „Kleinen“ beschulen müssen. Schule muss immer den erwartbaren Entwicklungsstand der Kinder berücksichtigen. Insofern verstehe ich, wenn sich die Kinder schwer tun.
In der Grundschule werden wenige Fächer durch wenige Lehrkräfte unterrichtet, bei uns lernen die Kinder neue Fächer kennen und haben im „ungünstigsten“ Fall zehn verschiedene Lehrkräfte (was wir intern durch unsere Planungen zu verhindern versuchen).
Das Scheitern der Grundschule – Lehrplan der Grundschule – Teil 1
Warum nun „Scheitern der Grundschule“?
Nicht nur ich, sondern auch viele Kolleginnen und Kollegen, die in den Klassen 5 und 6 unterrichten, stellen sich immer häufiger die Frage:
Was machen die Grundschulen in den vier Jahren?
Ich bin kein Grundschulpädagoge, so dass ich mir nicht anmaßen möchte, über die Kolleginnen und Kollegen zu urteilen. Allerdings habe ich einige Gedanken dazu:
- Die Kinder sollten nach vier Jahren sicher lesen, schreiben und rechnen können.
- Die Schülerinnen und Schüler benötigen „Rüstzeug“, um (nicht nur) in der weiterführenden Schule zurechtzukommen.
- Erziehung sollte zentraler Bestandteil der schulischen Arbeit sein.
Zu 1:
Was bedeutet „sicher“? Das ist letztlich Ansichtssache, aber in den Lehrplänen sind die erwartbaren Kenntnisse und Fertigkeiten formuliert.
Die Schülerinnen und Schüler
https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-grundschule/deutsch/lehrplan-deutsch/kompetenzen/kompetenzen.html
- schreiben flüssig in einer gut lesbaren verbundenen Handschrift
Einverstanden!
Die Schülerinnen und Schüler
ebenda
- verstehen schriftliche Arbeitsanweisungen und handeln selbstständig danach
- finden in Texten gezielt Informationen und können sie wiedergeben
- […]
Vom „flüssigen Lesen“ ist an keiner Stelle die Rede.
Die Schülerinnen und Schüler
https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-grundschule/mathematik/lehrplan-mathematik/kompetenzen/index.html
- lösen Aufgaben aller vier Grundrechenarten unter Ausnutzung von Rechengesetzen und Zerlegungsstrategien mündlich oder halbschriftlich (auch unter Verwendung von Zwischenformen)
- […]
- verwenden Fachbegriffe richtig (Summe, Differenz, Produkt, Quotient, addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren)
- […]
- geben alle Zahlensätze des kleinen Einmaleins automatisiert wieder und leiten deren Umkehrungen sicher ab
- […]
- führen die schriftlichen Rechenverfahren der Addition, Subtraktion und Multiplikation sicher aus
So weit, so gut.
Das Scheitern der Grundschule – Die inhaltsleeren Kompetenzen
Seit PISA 2001 wurden deutschlandweit die Lehrpläne auf „kompetenzorientiert“ umgestellt. Der Kompetenzbegriff ist nicht klar und trennscharf definiert, so dass Interpretationsmöglichkeiten bleiben. Grundsätzlich könnte man ihn mit „erlernbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten“ übersetzten, was dazu führt, dass man die Begriffe „Fähigkeit“ und „Fertigkeit“ definieren muss.
Fähigkeiten und Fertigkeiten
Fähigkeiten sind die zur Ausführung bestimmter Tätigkeiten notwendigen Bedingungen. Die Psychologie führt die Bereitschaft, bestimmte Leistungen zu zeigen, auf Anlage, aber auch auf Erziehung, Übung und Bildung zurück.
Häufig wird der Begriff der Fertigkeiten von den Fähigkeiten abgegrenzt, indem man durch Übung verfestigte und dadurch verinnerlichte Handlungskomponenten als Fertigkeiten bezeichnet.
Ein gutes Beispiel ist die Bedienung der Gangschaltung im Auto. Der Unterschied wird klar, wenn man überlegt, wie ein Fahranfänger im Vergleich zum routinierten Fahrer schaltet. Wer noch nachdenken muss, wie man den Schalthebel bedient, um vom zweiten in den dritten Gang zu schalten, hat diesen Vorgang noch nicht verinnerlicht. Derjenige ist fähig, den Vorgang zu tun, eine Fertigkeit ist noch nicht ausgebildet.
Die Definitionen, die wegen der Unschärfe streng genommen keine sind, unterscheiden sich zudem in Abhängigkeit vom Thema. So hat auch eine Maschine eine technische Leistungsfähigkeit, die betriebswirtschaftlich ebenfalls als Fähigkeit definiert werden kann.
Das Kompetenzmodell
Was ist eigentlich das Ziel von Bildung? Diese Frage ist schwer zu beantworten, da neben dem grundsätzlichen Problem einer genauen Definition zusätzlich die Interessen der Bundesländer unter einen Hut kommen müssen.
Eine Option wäre, das humboldtsche Bildungsideal zugrunde zu legen. Demzufolge muss die Schule mündige Bürger produzieren, die sowohl für sich selbst einstehen können als auch gleichzeitig der Gesellschaft und damit dem Gemeinwohl dienen können. Aber wie soll man das messen? Messbar im Sinne der Empirie sind nur Zahlen.
Dreh- und Angelpunkt ist daher der Versuch, Bildungserfolg skalierbar zu machen. Also zerlegt man langfristige Lernziele in kleine Häppchen – Kompetenzen. Der Unterschied zu den oben genannten Fähigkeiten und Fertigkeiten liegt darin, dass die Beurteilung des Wissens und Könnens der Schüler auf Ankreuzlisten standardisiert wird, die niemals wiedergeben können, ob ein Kind in Zusammenhängen denken kann und reproduzierbares Wissen verinnerlicht hat.
Um echte Kompetenzen zu entwickeln, braucht es geduldiges wiederholtes Üben, um mehrere Fähigkeiten zu entwickeln und deren Verknüpfungen im Langzeitgedächtnis anzulegen. Die Kinder müssen ausdauernd sein, andere kurzfristige Motivationen („Ich habe jetzt keine Lust, weil etwas anderes gerade spannender ist.“) gehören zurückgedrängt.
Es reicht eben nicht aus, bspw. einzelne Buchstaben sauber und richtig schreiben zu können. Es braucht viel Zeit, bis aus den einzelnen Buchstaben sinnvolle und orthographisch richtig geschriebene Wörter werden – ganz zu schweigen davon, dass die Schüler ihren Gedanken sinnvoll Ausdruck verleihen.
Für die Schüler sichtbar findet dieses Kompetenzmodell Ausdruck in den vielfältigen Checklisten mit Smileys, die für „kann ich“, „ich bin noch nicht sicher“, „kann ich nicht“ stehen. Was ich mich dabei frage ist, wie ein 10jähriges Kind in der Klasse 5 in der Lage sein soll, hier richtig anzukreuzen. Selbst, wenn erledigte Aufgaben mit der Lehrkraft gemeinsam besprochen und verglichen sind, fehlt es Kindern – Achtung – an der Kompetenz der richtigen Selbsteinschätzung. Selbst Erwachsene können das nicht immer.
Die Checklisten vermitteln den Eindruck, dass Bildung nichts anderes als das schrittweise Abarbeiten eben dieser Listen ist. Das ist gelinde gesagt völliger Unsinn. Den Kindern wird dadurch vorgegaukelt, dass sie das Thema durchdrungen haben.
Michael Winterhoff verwendet in seinem Buch „Deutschland verdummt“ (ISBN 978-3579014685) den Vergleich zum Stangenei. Nach dem Zerlegen, separierten Garen und erneuten Zusammensetzen sieht es noch aus wie Ei, ist aber streng genommen keines mehr.
Schule wird mittlerweile auf die Kompetenzraster reduziert. Ganz nebenbei gibt es mittlerweile viele wirtschaftliche Interessen, am Messwahn zu verdienen. Bildungsinstitute oder zu den Kompetenzen passende Arbeitsmaterialien gibt es zuhauf.
Lehrplan der Grundschule – Teil 2
Oben hatte ich die Teile des Lehrplans zitiert, denen ich zumindest inhaltlich zustimmen würde. Da ist aber noch viel mehr…
Ein paar Beispiel zum Nachdenken über die Sinnhaftigkeit dessen, was da erwartet wird (https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-grundschule/index.html):
Die Schülerinnen und Schüler …
- Deutsch: …nutzen Gestaltungs- und Überarbeitungsmöglichkeiten herkömmlicher und neuer Medien (z. B. Schmuckblätter, Korrekturlinien, Clip-Art und Rechtschreibprogramme des PC)
- Mathematik: …entwickeln und nutzen für die Präsentation ihrer Lösungswege, Ideen und Ergebnisse geeignete Darstellungsformen und Präsentationsmedien wie Folie oder Plakat und stellen sie nachvollziehbar dar, z. B. im Rahmen von Rechenkonferenzen (präsentieren und austauschen)
- Sachunterricht: …erkunden Möglichkeiten der Partizipation von Kindern an Entscheidungen im Gemeinwesen und beteiligen sich daran (z. B. Planung von Spielplätzen und Schulwegen; Kulturprogramme für Kinder)
- Sachunterricht: …kennen die Bezeichnungen für die Geschlechtsorgane und wissen um deren Bedeutung für die sexuelle Entwicklung (z. B. Zeugung, Schwangerschaft, Geburt, Verhütung)
Ich ganz persönlich meine, dass die Lehrpläne überfrachtet sind mit „Kompetenzen“, für die die Kinder entweder zu jung sind oder die viel zu früh unterrichtet werden zu Lasten der von mir oben genannten Schwerpunkte (lesen, schreiben, rechnen). Genausowenig hat der Englischunterricht in der Primarstufe irgendetwas zu suchen. Über den vielfältigen Einsatz von Tablets möchte ich mich lieber nicht auslassen.
Das Scheitern der Grundschule – Fazit
Seit Jahren beobachte ich, wie die genannten klassischen Kulturtechniken immer weniger ausgeprägt sind.
- Sauberes, orthographisch korrektes Schreiben ist bei einer zunehmenden Zahl von Kindern kaum noch erkennbar.
- Flüssiges Lesen stellt viele Kinder vor große Probleme.
- Der sichere Umgang mit dem kleinen Einmaleins ist meist eine Fehlanzeige.
Hinzu kommt, dass die Kinder teilweise Verhaltensweisen zeigen, bei denen die Frage zwingend erscheint, ob in der Grundschule grundlegende Verhaltensweisen überhaupt angelegt wurden.
- Die Kinder sprechen Erwachsene mehrheitlich mit „du“ an.
- Statt aufzuzeigen, kommen die Schüler immer direkt nach vorn zum Lehrer und „umringen“ ihn.
- Klare Arbeitsanweisungen werden nicht umgesetzt, da diese offensichtlich in ihrer Verbindlichkeit gar nicht wahrgenommen werden.
- Selbstorganisation (soweit erwartbar) findet man nur in wenigen Fällen.
Nun möchte ich nicht schließen, ohne zu erwähnen, dass es auch Kinder gibt, die gut entwickelt sind. An den Grundschulen wird sehr unterschiedlich gearbeitet (obwohl die Kompetenzen doch zentrale Vorgabe sind?), es gibt nach wie vor Elternhäuser, die ihre Aufgaben tadellos erfüllen.
Apropos Eltern: Ich stelle fest, dass es leider im Gegensatz zu gerade Gesagtem Elternhäuser gibt, die ganz sicher mehr tun sollten, um ihre Kinder zu unterstützen – allerdings nicht als Helikopter oder gar Kampfhubschrauber. Andererseits sehe ich auch, dass die Schul- und Familienpolitik an die Eltern falsche Signale sendet, durch die der Irrglaube entsteht, dass sich der Staat um alles kümmert und Elternhäuser komplett aus der Verantwortung entlässt. Lediglich bei der Wahl der weiterführenden Schule mischt sich der Gesetzgeber nicht ein, wissend, dass das falsch ist. Ausbaden müssen es letztlich die Kinder, denen die Erfolgserlebnisse verwehrt bleiben.
Das Thema Migration und Erlernen der deutschen Sprache habe ich noch gar nicht angesprochen.
Vielleicht ein anderes Mal…
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