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Die Aufgabe der Erprobungsstufe ist es, herauszufinden, ob die Wahl der weiterführenden Schule richtig war. Am Ende wird eine Entscheidung durch die Klassenkonferenz getroffen.

(1) In der Hauptschule, der Realschule und im Gymnasium werden je-
weils die Klassen 5 und 6 als Erprobungsstufe geführt.
(2) Die Erprobungsstufe dient der Erprobung, Förderung und Beobach-
tung der Schülerinnen und Schüler, um in Zusammenarbeit mit den El-
tern die Entscheidung über die Eignung der Schülerinnen und Schüler für
die gewählte Schulform sicherer zu machen.
(3) Am Ende der Erprobungsstufe entscheidet die Klassenkonferenz, ob
die Schülerin oder der Schüler den Bildungsgang in der gewählten Schul-
form fortsetzen kann. Nach jedem Schulhalbjahr in der Erprobungsstufe
befindet sie außerdem darüber, ob sie den Eltern leistungsstarker Schü-
lerinnen und Schüler der Hauptschule einen Wechsel ihres Kindes zur
Realschule oder zum Gymnasium und den Eltern leistungsstarker Schü-
lerinnen und Schüler der Realschule einen Wechsel ihres Kindes zum
Gymnasium empfiehlt.

https://bass.schul-welt.de/pdf/6043.pdf (§ 13)

Soweit der Gesetzgeber.

In Fortsetzung meines Artikels zum Scheitern der Grundschule möchte ich die Probleme aufzeigen, die damit verbunden sind. Die Ausführungen basieren auf der Erprobungsstufe einer Realschule mit dem Sozialindex 4.

In besonderer Weise fließen meine Erfahrungen als Mathematiklehrer einer Klasse 5 (in der ich gleichzeitig Ko-Klassenlehrer bin) ein.

Status Quo

Damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, die folgenden Ausführungen richtig einordnen können, beschreibe ich zunächst, welche Kinder ich vor mir sitzen habe:

  • fünf Kinder mit noch nicht ausgebildeten deutschen Sprachkenntnissen (Integration, Zuzug)
  • zwei Kinder mit Einschränkungen im Bereich Lernen (Inklusion)
  • mehrere Kinder mit Hauptschulempfehlung (es ist ja nur eine Empfehlung, der die Eltern nicht folgen müssen)

Unabhängig von den genannten Rahmenbedingungen seitens der Zusammensetzung der Klasse stelle ich fest, dass die Kinder mehrheitlich psychisch nicht den Entwicklungsstand haben, den sie ihrem Alter gemäß haben sollten. Ich mache das daran fest, dass sie teilweise ein schlecht entwickeltes Sozialverhalten zeigen, ständig Rückfragen haben („Sich-dumm-stellen“) oder apathisch bzw. verträumt und desinteressiert wirken. Auffallend ist zudem, dass viele nicht wissen, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten müssen. Grundlegende Verhaltensregeln (wie reagiere ich in welcher Situation richtig) sind vielen Kindern unbekannt, was letztlich bedeutet, dass sie sich nicht übergriffig verhalten, sondern schlicht nicht wissen, was richtig und was falsch ist.

Die Verbindlichkeit von Anweisungen Erwachsener wird nicht erkannt.

  • Fehlendes Arbeitsmaterial ist zwar häufig der Nachlässigkeit der Eltern geschuldet, aber dennoch besteht bei den Kindern kein Gefühl dafür, dass es sich nicht um ein „naja, vielleicht beim nächsten Mal“ handelt, sondern um eine wichtige Voraussetzung für den schulischen Erfolg.
  • Arbeitsaufträge werden nicht als verbindlich und damit sofort auszuführen erkannt, sondern der Beliebigkeit anheim gestellt. Aufforderungen meinerseits werden schlicht ignoriert.

Ich bitte, das Wort Ignoranz hier nicht misszuverstehen, es ist das Unvermögen, einen Arbeitsauftrag umzusetzen.

Konsequenzen

Was bedeutet das für mich? Bei der Wahl der Mittel muss ich beachten, was ich erwarten kann und was nicht. Ersteres ist nicht viel… Folgende Liste habe ich für mich zusammengestellt:

  • psychisch zurückgebliebenen Kinder identifizieren
    • aggressives, unsoziales Verhalten
    • ständiges Rückfragen (Sich-dumm-stellen)
    • Apathie
  • sich selbst vertrauen
    • Lehrer müssen ihre eigenen Ideen umsetzen
    • Bedingung: Lehrer bezieht die Kinder auf sich und führt sie, leitet sie an
  • Kontakt zu den Kindern finden und halten
    • Kinder suchen Orientierung (nicht nur durch Noten)
    • Lob, aber auch eindeutiger Affekt
  • klare Anweisungen
    • keine „Pendelerziehung“
    • klare Regeln, eindeutige Reaktion auf Fehlverhalten
  • Unterricht ritualisieren und entschleunigen
    • gleiche Abläufe schaffen
    • wenig Hektik im Unterricht
  • gemeinsames Handeln
    • Lehrer sind keine Einzelkämpfer
    • kein Konkurrenzdenken unter Kollegen
  • Schüler engmaschig begleiten und ihnen etwas abverlangen
    • Konzentration auf den Unterrichtsgegenstand
    • Frustration aushalten
    • lernbereit sein
    • Lehrer entscheidet -> Kinder erledigen die Aufträge (keine Auswahl, kein „vielleicht“)
    • weg von Checklisten!

Bevor ich falsch verstanden werde: Es geht nicht um eine „Kasernierung“ oder ein autoritäres Auftreten den Kindern gegenüber, sondern um die Schaffung einer sicheren und für die Kinder nachvollziehbaren Lern- und Lebensumgebung.

Anleitung und Begleitung sind wichtiger als exekutive Maßnahmen, ohne letztere geht es allerdings auch nicht. Diese müssen aber im engen Kontext zur Lehrer-Schüler-Beziehung stehen. Auch hier sind ToDO-Listen sinnlos. Das gleiche Vergehen kann und muss bei verschiedenen Kindern auch zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Gleichbehandlung vor dem Hintergrund, gerecht sein zu wollen, ist nicht immer der richtige Weg.

Um erfolgreich mit den psychisch wenig entwickelten Kindern arbeiten zu können, ist die erste Grundvoraussetzung, dass die Kinder auf das Lehrerverhalten reagieren und sich in die Gegebenheiten einfinden. Erziehung und Beziehungsarbeit gehen VOR Unterricht im Sinne von fachlichen Inhalten. 

Weg von der Idee des „Lernbegleiters“ hin zu einer pädagogischen Führung. 

Weg vom „autonomen Lernen“ hin zu strukturiertem Unterricht, der von der Persönlichkeit des Lehrers geprägt ist.

Autonomes Lernen

Eine der schlimmsten Fehlentwicklungen der Schulpolitik der vergangenen 20 Jahre ist die Idee, Kinder könnten sich alles selbst beibringen, der Lehrer muss sie dabei nur begleiten. So werden Lerntheken eingerichtet, diverse Softwareprodukte angeschafft und eingesetzt, kooperative Lernformen den lehrerzentrierten Verfahren vorgezogen. Hier gilt: Alles in Maßen und an den individuellen Entwicklungsstand angepasst. Die Kompetenzorientierung verleitet aber dazu, viel zu schnell einen Haken hinter etwas augenscheinlich Erlerntes zu machen. Ich erinnere an das Beispiel mit der Gangschaltung im Auto. Der Fahrlehrer beobachtet, wie der Fahrschüler sicher vom zweiten in den dritten Gang schaltet – Kompetenz abgehakt. Was für ein Irrtum!

Nehmen wir ein weiteres Beispiel – das Erlernen eines Musikinstrumentes.

Wird ein Kind jemals lernen, ein Musikinstrument zu spielen, weil ich es ihm ins Kinderzimmer gelegt habe?

Und auch da gilt dann: nur das Instrument spielen reicht nicht, um es zu können. Man muss auch fleißig üben und dran bleiben, auch wenn es manchmal weh tut.

Reaktion einer Kollegin auf mein Beispiel zum Erlernen eines Instruments

Statt dessen machen es sich viele Lehrkräfte (unbewusst, denn sie haben es so gelernt) viel zu leicht und wundern sich am Ende, dass die Klassenarbeit oder der Test so schlecht ausfallen.

Fazit

Ich betrachte meine Sichtweise weder als das Nonplusultra noch nehme ich für mich in Anspruch, den richtigen Weg zu gehen.

Ich halte es aber weiterhin so wie vor 30 Jahren, dass ich den Kindern zuerst alle Verhaltensregeln beibringe, bevor ich intensiv am Stoff arbeite. Erste Erfolge stellen sich bereits ein. Dabei reicht es nicht, den Kindern ihr falsches Verhalten zu spiegeln, sondern ich muss sie auch ermutigen, dass wir es gemeinsam schaffen. Das pädagogische Gespür für das Individuum in der Situation ist der Dreh- und Angelpunkt. Daher halte ich es für extrem wichtig, dass Lehrer in der Ausbildung psychologisch und auch pädagogisch intensiv ausgebildet werden, was meiner Wahrnehmung nach nicht in dem Maße passiert, wie es wichtig wäre.

Ich gehe noch einen Schritt weiter: Die Ausbildung der Kinder muss in den Händen der besten Hochschulabsolventen liegen, fachlich, aber eben auch pädagogisch und psychologisch!

Das Gegenteil ist der Fall. Die Lehrerausbildung wird immer didaktik-lastiger auf Kosten der fachlichen Ausbildung, wie oben gefordert. Die Studienseminare vermitteln den Lehramtsanwärtern Methoden im Sinne des kooperativen und autonomen Lernens. Lehrerzentrierter Unterricht ist verpönt, Leistung fordern nicht mehr kindgerecht.

Ein Thema gehört zur Wahrheit auch dazu. Der permanente Mangel an Absolventen, die Lehrer werden wollen, sorgt dafür, dass es seit mehreren Jahren den sogenannten Seiteneinstieg gibt. Fachlich gut ausgebildete Menschen schulen um und werden Lehrer insbesondere in Mangelfächern (Fächer, in denen sehr wenige Lehrkräfte mangels Interesse darin ausgebildet werden). Obwohl ich für diese Lehrerinnen und Lehrer hinsichtlich ihrer Eignung an meiner Schule eine Lanze brechen muss, ist das ein Weg, der langfristig nicht geeignet ist, in den Schulen wieder bestausgebildete Pädagogen anzustellen. Zum Thema habe ich mich hier bereits geäußert.

…. und noch etwas, was zur Wahrheit dazugehört: Ich bin seit 30 Jahren Lehrer und das nicht, weil ich einen dicken Gehaltsscheck bekomme! Dennoch möchte ich derzeit – unter den Rahmenbedingung dieser verfehlten Schulpolitik – keinem jungen Menschen empfehlen, Lehramt zu studieren.

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Von sp

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