Unter der Überschrift „Schule und die deutsche Geschichte“ möchte ich insbesondere auf den Umgang mit dem sog. „Dritten Reich“ eingehen und die Bedeutsamkeit eines vorurteilsfreien und fachlich vollständigen Geschichtsunterrichts herausstellen. Am Ende möchte ich den Bogen schlagen zu „bestausgebildeten“ Lehrerinnen und Lehrern im Allgemeinen.
Vorbetrachtung
Zunächst ganz kurz:
- Erstes Reich: Heiliges Römisches Reich (Deutscher Nation) 800 – 1806
- Zweites Reich: Deutsches Kaiserreich 1871 – 1918
- Nationalsozialistisches Deutsches Reich 1933 – 1945
Die Nationalsozialisten um Adolf Hitler haben mit dieser Wortschöpfung (begleitet von „Tausendjährigem Reich“) versucht, das Dritte Reich in eine Traditionslinie mit den vorgenannten zum bringen. Nach der Zeit der Weimarer Republik, und damit nach 1848 dem zweiten ernsthaften Versuch, eine Demokratie zu etablieren, war das Dritte Reich ein Rückschritt in eine Diktatur, die man als Fortschritt zu verkaufen versuchte, was leider sehr gut funktioniert hat.
Der folgende verlinkte Artikel beschreibt aus Sicht der Autorin einerseits die Problematik des sog. Schuldkults, andererseits die des öfteren kritisierten einfachen Antworten der AfD darauf. Die Wahrheit liegt wohl in der berühmten Mitte.
Ist es legitim, die Zeit des Nationalsozialismus im Kontext der gesamtdeutschen Geschichte als kleinen Abschnitt zu deuten oder bedürfen diese 12 Jahre einer deutlicheren Wichtung mit Blick auf die Grausamkeiten der Nazis?
Diese Fragestellung lässt sich aus meiner Sicht nicht kurz und knapp beantworten, insofern stimme ich der Autorin zu. Die sehr heterogenen Kommentare dazu zeigen, dass es ein absolut diskussionswürdiges Thema ist.
Einfluss schulischer Bildung
Betrachten wir den Einfluss der schulischen Bildung. Prof. Dr. Ulrich Schmidt-Denter, Universitätsprofessor für Psychologie i.R. an der Universität zu Köln, hat 2017 eine Studie zu den Auswirkungen der „Holocaust Education“ auf die Identitätsentwicklung Jugendlicher mit und ohne Migrationshintergrund veröffentlicht.
Nachfolgend die Studienergebnisse, gefolgt von Zitaten aus diesem Dokument (falls nicht anders gekennzeichnet) mit meinen Kommentaren dazu.
https://schmidt-denter.de/forschung/wissarb.html | publiziert 2017
Die Deutschen neigen stärker als andere Europäer zur kritischen Selbstreflektion.
Deutsch zu sein wird von vielen immer noch als problematisch gesehen, da wir ja alle Verbrecher als Vorfahren haben und uns dieses Bewusstsein immer leiten muss: „Nie wieder!“ Die Studie versuchte herauszufinden, woran dies liegt.
Ich persönlich habe dazu eine klaren Standpunkt: Die NS-Zeit ist Teil unserer Geschichte, an dem es auch nichts zu leugnen gibt. Ich finde, dass wir diesen Teil der Geschichte kennen sollten, eine moralische Pflicht aber nicht daraus ableiten dürfen. Hinzu kommt, dass die Geschichte der Deutschen in der Tat nicht auf 12 Jahre begrenzt ist. Es gibt so viel Großartiges, auf das wir zurecht stolz sein dürfen.
Als kritischer Faktor erwies sich die Scham über die „deutsche Geschichte“, wobei der Geschichtsbegriff eingeengt war auf die 12jährige Existenz des „Dritten Reiches“ und innerhalb dieser Epoche noch einmal fokussiert war auf den Genozid an den Juden.
Genau das meine ich. „Wir sind schuld!“ – eine andere Interpretation lässt das gar nicht zu. Schuld ist etwas Individuelles, nichts Kollektives. Mein Vater ist 1943 geboren, er hat definitiv nichts mit dem Genozid an den Juden oder den (je nach Quelle) bis zu 80 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg zu tun. … und ich erst recht nicht!
Wichtige Sozialisationsinstanzen wie die Schule, aber auch die Medien dürften eine zentrale Rolle spielen und das Image Deutschlands beeinflussen.
Dafür braucht es streng genommen keine Studie. Die Beeinflussung unserer Kinder in den Schulen – positiv wie ggf. negativ – ergibt sich schon aus der Organisation unseres Schulwesens. Kinder stehen in einer (Beurteilungs-)Abhängigkeit zu den Lehrern. Die Mehrheit der Lehrer geht souverän damit um, aber es ist ein Thema: Lehrer geben Noten und entscheiden damit über Zukunftschancen.
Eine zentrale Aussage war, dass nicht lediglich über eine historische Epoche informiert werden soll, sondern dass daraus für die Gegenwart gelernt werden soll, dass also Transfereffekte angestrebt werden. Diese betreffen insbesondere die Opferidentifikation, ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein, die Förderung von Autonomie- und Demokratieerziehung sowie die Immunisierung gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Erziehungsmittel sind so angelegt, dass nicht nur die kognitive Ebene angesprochen wird, sondern dass tiefe Betroffenheit bei den Schülerinnen und Schülern hervorgerufen werden soll. Die Emotionalisierung soll u.a. erreicht werden durch Besuche von Gedenkstätten und Konzentrationslagern, erschütterndes Filmmaterial, Literatur über jüdische Schicksale und Berichte von Zeitzeugen. Der gewünschte Erziehungserfolg dieser Maßnahmen wird in vielen Quellen ganz einfach vorausgesetzt. Es finden sich kaum kritische Reflexionen über eventuelle psycho-soziale Nebenwirkungen und kein ausgeprägtes Bewusstsein über die Notwendigkeit einer psychologisch-pädagogischen Evaluation.
Das Ganze tangiert auch das Spannungsfeld der den Lehrerinnen und Lehrern vorgegebenen politischen Neutralität.
Auch wenn und falls unsere Vorfahren Verbrecher waren, beruht weder unsere Identität noch die unseres Landes ausschließlich auf ihren Taten.
https://www.tichyseinblick.de/meinungen/nationalstolz-aufarbeitung-scheinalternative/
Bin ich als Lehrer politisch neutral, wenn ich wie oben argumentiere? Oder muss ich der Leitlinie folgen, die wie im Zitat darüber getragen ist von dem Gedanken, bei den Schülern maximale Betroffenheit zu erzeugen?
Ich stelle mir die Frage, ob der Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers überhaupt altersgemäß ist. Können 15jährige Kinder – ja, es sind noch Kinder! – das Gesehene überhaupt einordnen bzw. verarbeiten? Das gelingt mir als Erwachsenem kaum.
Die Nationalstolz-Werte waren bereits bei 14Jährigen vergleichsweise niedrig, sanken dann aber noch einmal im Alter zwischen 15 und 16 Jahren signifikant ab. Dies ist genau das Alter, in dem die Unterrichtseinheit „Nationalsozialismus/Holocaust“ auf dem Lehrplan steht.
Die Studie zeigt hier den Zusammenhang zwischen der schulischen Bildung und dem, was ich weiter oben als Schuldkult benannt habe.
Die in den Lehrplänen enthaltene didaktische Vorgabe, Zeichen sichtbarer Betroffenheit auszulösen, erscheint somit durchaus als diskussionswürdig.
Ich möchte an dieser Stelle einen kleinen Ausflug in die Lehrerausbildung machen. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen stelle ich die Behauptung auf, dass nur bestausgebildete Menschen überhaupt als Lehrer arbeiten dürfen.
Was bedeutet „bestausgebildet“?
Beginnen wir mit der fachlichen Expertise. Gerade das Beispiel „Geschichte“ zeigt, dass es notwendig ist, dass die Geschichtslehrer überragende historische Kenntnisse benötigen, um absolut sattelfest das Thema Nationalsozialismus in all seinen Facetten zu unterrichten. Die Formel „muss das Thema vollständig durchdrungen haben“ klingt vielleicht abgedroschen, aber gerade Themen wie Holocaust, Machtergreifung oder Zweiter Weltkrieg sind derart komplex, dass „Wikipedia-Wissen“ ganz sicher nicht ausreicht. Der damit verbundene Auftrag an die Universitäten, frei von jeder Ideologie zu forschen und zu lehren, ist damit eng verbunden. Ist das sichergestellt? Ich habe manchmal Zweifel daran, wenn ich erlebe, was an den Hochschulen im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen im Gaza-Streifen los war. Universitäten müssen Orte der Neutralität bleiben und sich ausschließlich der Wissenschaft widmen.
Nun könnte man jeden Fachwissenschaftler in die Schulen schicken, wäre da nicht die Didaktik, also die Kunst des Lernens und Lehrens. Erst dieser Teil der Ausbildung befähigt uns Lehrer dazu, die fachlich komplexen Inhalte für Schüler altersbezogen aufzuarbeiten. Vielleicht haben Sie den Begriff „didaktische Reduktion“ in diesem Kontext schon einmal gehört. Die große Kunst besteht darin, zu vereinfachen ohne dabei zu verfälschen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich als Student beginnend mit einer fachlichen Vorbetrachtung die didaktische Vereinfachung skizzieren musste. Jeder Schritt war fachlich zu begründen (z. B. unter welchen Rahmenbedingungen diese Vereinfachung gemacht wurde und warum das an dieser Stelle möglich ist). Ich bin zwar Naturwissenschaftler, behaupte aber ganz kühn, dass die grundlegende Vorgehensweise in den Gesellschaftswissenschaften genauso ist. Womit ich wieder bei der fachlichen Expertise bin und sich der Kreis schließt.
Fazit
Ich wollte den Bogen schlagen von einem sehr komplexen Thema, bei dessen Aufarbeitung man sich immer noch den Mund verbrennen kann hin zu dem im vorangegangenen Abschnitt Gesagten.
Völlig unabhängig vom Fach zeigt gerade das Thema NS-Zeit, welche Rolle Lehrer in unserer Gesellschaft spielen. Es ist eine große Herausforderung, Menschen zu mündigen Bürgern zu erziehen. Ich habe es da als Mathematiker und Physiker sicher deutlich einfacher als bspw. die Historiker in meinem Berufsstand.
Schlagen wir noch einmal den Bogen zur „politischen Neutralität“. Natürlich hat jeder Lehrer eine eigene Meinung zu Politik und Gesellschaft. Es wäre realitätsfremd, vom Gegenteil auszugehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen ist aber der Umgang mit dem persönlichen Standpunkt deutlich schwieriger. Das geht soweit, dass ich theoretisch im Unterricht Dinge vermitteln muss, zu denen ich einen völlig konträren Standpunkt einnehme. Da sind wir wieder bei fachlicher und didaktischer Expertise. Es muss mir gelingen, die Themen fachlich korrekt und didaktisch vollständig aufbereitet zu vermitteln. Gleichzeitig ist es kein Problem, wenn ich – deutlich als solche gekennzeichnet – meine persönliche Meinung kundtue. Im Sinne der Erziehung zum mündigen Bürger gehört das auch dazu. Allerdings ist es zurecht untersagt, Schülerinnen und Schüler politisch zu beeinflussen oder gar zu manipulieren. Die Trennung zwischen Fachlichkeit und Meinung oder Kommentar muss immer deutlich herausgearbeitet werden.
[…] als Mathematiker und Physiker sicher deutlich einfacher […]
Jetzt zitiere ich mich schon selbst… 😉
Am Beispiel des Physikunterrichts kann ich das etwas näher erläutern. Ein zentrales Thema ist die Elektrizitätslehre. Im Verlauf dieses Stoffgebiets taucht das Thema Energieversorgung zwangsläufig auf. Im Zusammenhang mit der elektromagnetischen Induktion steht auch die Funktionsweise eines Kraftwerks und damit verbunden des Generators (den die meisten von Ihnen in der einfachsten Form als Fahrraddynamo kennen) auf dem Plan. Generatoren sind sowohl in Wärmekraftwerken als auch in Windkraftanlagen verbaut. Bei den Wärmekraftwerken wiederum gibt es als Energiequellen die fossilen Brennstoffe (im Wesentlichen Kohle und Gas) oder Brennelemente (z. B. auf Uranbasis).
Sachlich ist das schnell abgehakt. Das Thema hat aber auch eine gesellschaftlich-politische Seite. Wie soll ich reagieren, wenn die Themen Kern- und Windkraft angesprochen werden? In der Physik betrachten wir oft Vor- und Nachteile bei der technischen Anwendung. Muss ich als Landesbeamter loyal der Regierung folgen und die Energiewende in ihrer derzeitigen Ausgestaltung verteidigen oder darf ich auch kritische Töne einfließen lassen?
Die Antwort darauf habe ich weiter oben bereits gegeben. Nur die konsequente Trennung von Fachlichem und Meinung kann hier die Lösung sein. Die Prüfung der geäußerten Meinungen am erworbenen Wissen ist eine gute Basis für einen echten Diskurs. Dann und nur dann darf ich als Mensch auch meine Meinung einbringen, solange ich andere Meinungen zulasse und immer wieder eine fachliche Begründung einfordere.
So können auch nicht-gesellschaftswissenschaftliche Fächer allein durch die Art und Weise, wie gearbeitet wird, einen Teil zur Erziehung mündiger Bürger beitragen. Die Trennung von Information (erworbenes Wissen) und Meinung ist so ein Teil. Vielleicht sollten wir einige unserer Journalisten nochmal die Schulbank drücken lassen.
Bei den Geschichtskollegen ist es am Ende nicht anders. Basis ist ein umfassendes Wissen begleitet von einem Meinungsbildungsprozess, der vorurteilsfrei andere Standpunkte zulässt, diese am Wissen prüft, aber ggf. auch einfach stehen lässt.
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