Ich bin mir nicht sicher, ob „Wir packen sie in Watte“ mit einem Ausrufe- oder Fragezeichen enden sollte. Irgendwie, so glaube ich, geht je nach Sichtweise beides.
Auf Reddit startete am 15.09.2025 ein Thread mit folgendem Beitrag:
I’ve been teaching since 2011, and I’ve seen a decline in independence and overall capability in many of today’s kids. For instance:
I teach second grade. Most of them cannot tie their shoes or even begin to try. I asked if they are working on it at home with parents and most say no.
Some kids who are considered ‘smart’ cannot unravel headphones or fix inside out arms on a sweater. SMH
Parents are still opening car doors for older elementary kids at morning drop off. Your child can exit a car by themselves. I had one parent completely shocked that we don’t open the door and help the kids out of the car. (Second grade)
Many kids have never had to peel fruit. Everything is cut up and done for them. I sometimes bring clementines for snack and many of the kids ask for me to peel it for them. I told them animals in the wild can do it, and so can you. Try harder y’all.
We had apples donated and many didn’t know what to do with a whole apple. They have never had an apple that wasn’t cut up into slices. Many were complaining it was too hard to eat. Use your teeth y’all!
Übersetzung:
Ich unterrichte seit 2011 und habe bei vielen Kindern von heute einen Rückgang der Selbstständigkeit und der allgemeinen Fähigkeiten beobachtet. Zum Beispiel:
Ich unterrichte die zweite Klasse. Die meisten können ihre Schuhe nicht binden oder es nicht einmal versuchen. Ich fragte sie, ob sie zu Hause mit ihren Eltern daran arbeiten, und die meisten verneinten.
Manche Kinder, die als „schlau“ gelten, können Kopfhörer nicht auseinandernehmen oder die umgestülpten Ärmel eines Pullovers nicht zurechtrücken. Kopfschütteln [SMH = shaking my head].
Eltern öffnen älteren Grundschulkindern morgens immer noch die Autotür. Ihr Kind kann selbst aussteigen. Ich hatte einen Elternteil, der völlig schockiert war, dass wir die Tür nicht aufmachen und den Kindern nicht aus dem Auto helfen. (Zweite Klasse)
Viele Kinder mussten noch nie Obst schälen. Alles wird für sie geschnitten und erledigt. Manchmal bringe ich Clementinen als Snack mit, und viele Kinder bitten mich, sie für sie zu schälen. Ich habe ihnen gesagt, dass Tiere in der Wildnis das können, und ihr könnt das auch. Streng euch alle mehr an.
Wir haben Äpfel gespendet bekommen und viele wussten nicht, was sie mit einem ganzen Apfel anfangen sollten. Sie hatten noch nie einen Apfel gegessen, der nicht in Scheiben geschnitten war. Viele beschwerten sich, dass er zu hart zum Essen sei. Benutzt eure Zähne, Leute!
Dann gehen wir der Sache mal auf den Grund. Oder anders: Warum können Kinder das heute nicht mehr?
Meiner Ansicht nach offenbart sich hier die komplette Fehleinschätzung dessen, was Kinder brauchen. Einerseits behandelt man sie wie Erwachsene und verlangt ihnen Dinge ab, die sie nicht leisten können, andererseits verwehrt man ihnen gleichzeitig die Dinge, die zum Erwachsenwerden dazugehören: Vorbild, klare Regeln und Anleitung. Ganz wichtig dabei ist, sich Zeit zu nehmen, das mögliche Scheitern einzuplanen und die Kinder zu ermutigen, es wieder zu versuchen.
Ich weiß nicht, warum Eltern der Meinung sind, ihre Kinder in Watte packen zu müssen. Manche verwechseln offensichtlich das Kümmern mit dem Überbehüten. Kinder müssen bestimmte Dinge lernen, damit sie sich später im Leben zurechtfinden. Das kann man ihnen aber nicht durch gute Worte beibringen, hier hilft nur Probieren und Scheitern und ermutigt wieder probieren.
Attachment Parenting oder auf deutsch bedürfnisorientierte Erziehung wird zurecht kontrovers diskutiert. Ich kann eine enge Bindung zu meinem Kind auch ohne übertriebene Hinwendung erreichen. Kinder sollen sich in ihrem Umfeld sicher fühlen, ein klares Regelwerk mit allen Konsequenzen schafft diese Sicherheit. Wer mehr zum Attachment Parenting wissen möchte, kann hier nachlesen.
Aber zurück zum eigentlichen Thema. Wie wichtig ist es, auf die Bedürfnisse der Kinder zu reagieren. Das ist eine Frage, die man nur kontextbezogen beantworten kann. Kinder unterscheiden zunächst nicht nach wichtig oder weniger dringend, dafür sind die Erwachsenen zuständig. Weniger wichtige „Anfragen“ zurückzuweisen, schult die Impulskontrolle, ganz wichtige Bedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen ist Teil der elterlichen Fürsorgepflicht. Es fällt vielen Erwachsenen zunehmend schwer, Kinder zurückzuweisen. Das führt zu teilweise seltsamen Situationen, so wie den oben geschilderten.
„Nein, ich binde dir die Schuhe nicht zu, wir üben das jetzt.“ oder „Du kannst deine Schultasche selbst zum Auto tragen.“ oder „Benutze deine Zähne!“.
Ich weiß, dass dadurch viele Vorgänge länger dauern, aber Lernen ist eben kein Prozess, der ohne Training vollzogen werden kann.
Schwenken wir in die Schule.
Beginnend mit dem Kindergarten über die Grund- bis in die weiterführenden Schulen gibt es mittlerweile Ganztagsangebote, teils offen, teils gebunden (also verpflichtend). Wenn Eltern nun auf die Idee kommen, dass ihre Kinder bei Profis alles lernen, was sie brauchen, ist das aus meiner Sicht tatsächlich nachvollziehbar bzw. wundert es mich nicht. Der Staat schreit ja geradezu heraus: „Wir machen das.“.
Argumentiert wird gern damit, dass damit beide Elternteile die Möglichkeit haben, arbeiten zu gehen. Das soll gar nicht weiter thematisiert werden. Was bedeutet es aber für den Erziehungsauftrag? Sind nicht die Eltern primär dafür verantwortlich? Wollen diese Eltern tatsächlich, dass ihre Kinder von fremdem Menschen erzogen werden? Können sie sich aus der Verantwortung stehlen? Kompensieren sie mit der Behütung ihrer Kinder ihr schlechtes Gewissen?
Läuft der ganze Film in der Schule eigentlich anders ab?
Nein! Wir beklagen uns mehrheitlich über mangelhafte Leistungen in den Bereichen Lesen, Schreiben, Rechnen. Gleichzeitig „fluten“ wir die Kinder mit Arbeitsblättern, wo nur einzelne Begriffe oder Ergebnisse einer Rechnung eingetragen werden müssen. Ist das nicht das Gleiche wie der in Stücke zerlegte Apfel? Das Argument gegen ein anderes Vorgehen ist der Zeitfaktor. Ja, es geht schneller. Ist es dabei gleichzeitig nachhaltiger? Erzieht es die Kinder zu strukturiertem, sauberem Arbeiten, gerade vor dem Hintergrund, dass derart Arbeitsblätter ja auch sorgfältig abgeheftet werden müssen. Die Realität ist eine andere…
Wenn Lehrer sich über die Probleme beklagen und sie durch ihr Handeln gleichzeitig verstärken (oder mindestens ignorieren), dann weiß ich nicht, wie wir vorankommen sollen. Solange jeder beim anderen die Schuld sucht, gibt es nur einen Verlierer: die Kinder!
Dennoch packen wir sie weiterhin in Watte und sorgen dafür, dass diese immer kuscheliger wird.
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