oder: Wohin wollen wir mit unseren Kindern?
In meinem Beitrag Quo vadis? habe ich die Frage gestellt, wo es hinsichtlich der Erziehungsarbeit hingehen soll. An meiner Schule gibt es eine Arbeitsgruppe, die sich genau mit diesem Thema beschäftigt. Nach einer der Sitzungen hat ein Mitstreiter folgendes Essay im Sinne eines Protokolls verfasst.
Die Arbeitsgemeinschaft Erziehung hat sich in einer Handvoll Sitzungen mit der Frage beschäftigt, wie wir als Lehrkräfte unsere pädagogische Arbeit zielführender gestalten können. Daraus resultierten unter anderem die überarbeiteten Schulregeln. Außerdem richteten wir den Fokus auf die “Vorbereitete Lernumgebung“ im Sinne einer Gesamtheit aller äußeren Faktoren, die effizientes Lernen ermöglichen oder eben torpedieren. Beide Schwerpunkte der AG-Arbeit beschäftigten sich mit konkreten Handlungsanweisungen, um die zweifellos existierenden und hinlänglich diskutierten Probleme bei der Arbeit mit unseren Schülerinnen und Schülern anzugehen.
Im Folgenden möchte ich anregen, dass wir uns – ergänzend – der gleichen Problematik aus der entgegengesetzten Perspektive nähern und uns ganz grundlegende(n) Fragen stellen:
- Wer sind „wir“ als Schule überhaupt?
- Welche Ziele verfolgen wir?
- Welches Menschenbild von unseren Kindern haben wir dabei?
- Welche Möglichkeiten gibt es?
- Welchen Einschränkungen unterliegen wir?
Ich kann und möchte an dieser Stelle nur Fragen aufwerfen. Sollten wir gemeinsam im Kollegium zu konsensfähigen Antworten kommen, verspreche ich mir davon eine Art Schulphilosophie, die die Kolleginnen und Kollegen an einem Strang ziehen lässt, die als Richtschnur für Entscheidungen zu problematischen Kindern dienen kann und die vielleicht sogar neue Kraft geben wird, sich unserer Arbeit aus tiefer und klarer Überzeugung zu widmen.
Ein möglicher Ansatzpunkt ist die Bezeichnung „Realschule“.
Was verstehen wir unter einer Realschule?
Mein Bild von einer funktionierenden Realschule ist 35 Jahre alt, geprägt durch meine Grundschulfreunde in einer ländlichen Gegend, als Teil eines damals auch noch funktionierenden dreigliedrigen Schulsystems. Zur Realschule gingen die Kinder, deren Abstraktionsvermögen und Konzentrationsspanne nicht ganz fürs Gymnasium reichten, denen mit Technik und Hauswirtschaft anschauliche und handfeste Schulfächer entgegenkamen, deutsche Muttersprachler mit akzeptabler Rechtschreibung und solide beherrschten Grundrechenarten, mit Elternhäusern, die ausdrücklich den Weg zu einer guten Berufsausbildung und vielleicht später zur Leitung eines handwerklichen Meisterbetriebes unterstützten. Nichts davon lässt sich ohne Einschränkung auf unsere heutige Situation übertragen. Die klassische Realschule ist tot! Geblieben ist vielleicht der Anspruch, dass unsere Schülerinnen und Schüler Aufgaben im Schwierigkeitsbereich zwischen Hauptschul- und Gymnasialniveau lösen können sollten, vorgegeben durch Lehrplan und ZP10. Dieses Ziel erreicht etwa die Hälfte unserer Absolventen, ungeachtet all derer, die vor dem zehnten Schuljahr unsere Schule verlassen.
Wenn – schulpolitisch gewollt – nur etwa die Hälfte der neu aufgenommenen Fünftklässler eine Realschulempfehlung mitbringt und sechs Jahre später nur die Hälfte das angestrebte Ziel erreicht, unterrichten wir im Endeffekt an der Hälfte unserer Schülerschaft vorbei, zwangsläufig relativiert sich die Bedeutung des Lehrplans: Für die Hälfte unserer Kinder ist der Lehrplan allein keine geeignete Zielvorgabe, da sie überfordert sind und werden. Weder die Schule umzubenennen noch all diese Kinder „auszusortieren“ und „loszuwerden“ ist eine Option, denn „Die Versetzung ist der Regelfall.“ und der Weg zu anderen Schulformen wird durch knappe Listenplätze geregelt. Wiederum zwangsläufig bleibt nur, die Anforderungen in den Klassenarbeiten zu senken, die Kriterien für die Versetzung aufzuweichen und Schülerinnen und Schüler ins nächste Schuljahr durchzuwinken, deren Leistungen und Vorkenntnisse nicht ausreichend sind für eine erfolgreiche Schulkarriere in Richtung Realschulabschluss.
Oder gibt es hier Alternativen?
Der „Wegfall“ des Lehrplans (in seiner Bedeutung als Maßstab für die Hälfte unserer Schülerschaft) hinterlässt ein Vakuum. Zum einen verliert die Drohkulisse „schlechte Note“ an Bedeutung und macht uns zu zahnlosen Papiertigern bei manchen Jugendlichen. Es lohnt sich kurzfristig mehr, mit Klassenarbeiten über einfache Themen, Ausgleichsfächern und der Anzahl „erlaubter“ Fünfen zu kalkulieren, als Arbeit in in Übungsaufgaben oder gar in das Aufarbeiten von Defiziten zu investieren. Es wird doch mit minimaler Anstrengung nahezu jeder versetzt. Zur Not retten dann ein Nachhilfeinstitut und die Nachprüfung.
Was motiviert, wenn es nicht die Note ist?
Die Beziehung zu den Eltern, die Beziehung zur Lehrkraft, Konkurrenz zu Klassenkameraden, echtes Interesse an der Sache, Neugier…
Was noch?
Zum anderen führt die Überforderung mit dem Unterrichtsstoff aufgrund des für sie falschen Lehrplans bei Kindern, die es gewohnt sind, durch Wischen und Tippen innerhalb von Sekunden zum gewünschten Ziel zu kommen und die eine entsprechend niedrige Frustrationstoleranz haben, zu Resignation und viel „freier Energie“ im Unterricht, in dem sie inhaltlich längst abgehängt sind. Extrovertierte Störenfriede einerseits sind die Folge. Andererseits leiden viele Introvertierte still unter ihrem ständigen Scheitern.
- Wie fördern wir wen richtig?
- Wie weit können wir im Unterricht differenzieren?
- Wohin führt das Differenzieren, wenn am Ende doch immernoch die Realschulanforderungen das Ziel sind?
- Wie weit kommen wir mit sehr kleinschrittigem Unterricht?
- Haben wir Hemmnisse wie fehlende Lesekompetenz und sehr begrenzten Wortschatz genügend im Blick?
Viele Schülerinnen und Schüler jenseits der Erprobungsstufe können nicht flüssig vorlesen geschweige denn sinnerfassend lesen. Mit schriftlichen Aufgabenstellungen sind sie folglich überfordert.
Die Mehrheit unserer Schülerinnen und Schüler liest privat nicht und hat keine Vorbilder, von denen sie Begriffe außerhalb der einfachsten Alltagssprache lernen könnte.
- Hinterfragen wir zur Genüge, welche Begriffe die Kinder überhaupt verstehen und welche Vorkenntnisse vorliegen?
- Wieviel Zeit können und wollen wir damit verbringen, Versäumnisse aus der frühkindlichen Entwicklung beim Zahlenverständnis, beim Kopfrechnen, beim Auseinanderhalten von links und rechts, beim Ablesen analoger Uhren, bei der Handschrift etc. aufzuarbeiten?
- Sind uns Einschränkungen der Kinder beim Hören oder Sehen bekannt?
Das oben genannte Vakuum durch den nicht einmal mehr näherungsweise erfüllbaren Lehrplan lässt aber vor allem mich als Lehrer orientierungslos zurück.
- Was sind meine Aufgaben?
- Können wir die schulinternen Curricula anpassen?
Wenn schon nicht mehr echte Realschule, bleiben wir doch eine Schule. Wir erziehen Kinder.
- Zu was? Mit welchem Ziel?
- Gibt es Prioritäten?
- Gibt es eine Abfolge? Wenn ein Ziel nicht erreicht werden kann, was ist Plan B, Plan C…?
- Steht Tauglichkeit für den Arbeitsmarkt im Vordergrund?
- Welchen Stellenwert bekommen Softskills und Charakterbildung?
- Was ist mit klassischen Tugenden wie Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit u.s.w.?
- Welche Bedingungen können oder müssen wir für die Kinder schaffen, …
- … damit sie lernen können?
- … um sie vor anderen Kindern zu schützen?
- Welche Eckpunkte hat unsere professionelle Distanz?
Einen vielversprechenden Denkansatz könnte ein weiterer Perspektivwechsel liefern, indem ich den Standpunkt des Lehrers verlasse und mich frage:
- Was wünsche oder wünschte ich mir von der Schule für meine eigenen Kinder?
- Welche Erwartungen habe oder hatte ich dabei als selbstverständlich vorausgesetzt?
- Welche Befürchtungen und Sorgen gibt oder gab es?
- Was habe ich aus meiner eigenen Schulzeit mitgenommen?
- Was ist dort schiefgegangen?
- Wie und warum funktioniert Schule in anderen Ländern und Kulturkreisen?
Viele Fragen, auf die ich spontan auch keine Antwort weiß. Unser Ziel ist es, einen Prozess in Gang zu setzten, der uns vielleicht in der Diskussion darüber Antworten liefert.
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