Im Beitrag Sabine Czerny – zum Zweiten bearbeite ich die Seiten 109 bis 238 ihres Buches „Was wir unseren Kindern in der Schule antun“. Meine Kommentare und Erkenntnisse zum ersten Teil des Buches findet sich hier.
S. 109
Sabine Czerny spricht hier ein Problem an, was zunehmend zu Schwierigkeiten im Lernprozess führt – das Beherrschen der deutschen Sprache.
Vordergründig geht es um Migranten, letztlich existiert dieses Problem aber auch für deutsche Kinder, nur in anderer Ausprägung.
Absolut richtig ist, dass Schule viel zu wenig Zeit für die Sprachbildung aufwendet. Statt Orthographie und Grammatik vielfältig zu üben, geht der Anteil immer weiter zurück. Die Rechtschreibleistungen zählen faktisch nicht mehr, Diktate sind verpönt.
https://www.deutschlandfunk.de/iglu-studie-2021-lesekompetenz-kinder-100.html
Wie lernt man eigentlich Sprache?
Ganz einfach: indem man sie benutzt. Das heißt aber auch, dass eine mehrkanalige Nutzung wichtig ist. Nur durch lesen, schreiben und sprechen kann effektive Sprachbildung erfolgen.
Vor allem das Lesen sorgt dafür, dass sich Bilder einprägen. Wer kennt das nicht: Ich sehe ein Wort und kann ohne genau zu wissen, was falsch ist, sagen, dass es „komisch“ aussieht.
Schwierig wird es, wenn Kinder die deutsche Sprache später erlernen sollen. Dann fehlt ihnen die Zeit, die die deutschen Mitschüler bereits hatten, um Sprache auszubilden. Ohne intensive Förderung und Forderung geht es dann einfach nicht.
Die Frage ist doch, wie Schule das leisten soll, wenn in einer Klasse einige Kinder sitzen, die aus verschiedenen Ländern zugereist sind. Natürlich hilft der Umgang mit den deutschen Mitschülern, aber welches Sprachniveau sollen diese Kinder denn erreichen, zumal die Sprachkompetenz der Mitschülerinnen häufig ebenfalls zumindest teilweise defizitär, mindestens aber noch nicht vollständig ausgeprägt ist?
Ich finde, dass auch hier die Weichen außerhalb der Schule neu gestellt werden müssen. Und schon bin ich wieder bei Familienpolitik, Integrationspolitik (was ist das eigentlich?) und Sozialpolitik.
Zurück zur Schule:
Wo sind die schulpolitischen Entscheidungen, die das vielfältige Üben der deutschen Sprache ein den Vordergrund stellen? Dann und nur dann können wir die Kinder da abholen, wo sie stehen.
Wo sind die außerschulischen Angebote des zusätzlichen Sprachunterrichts für die Kinder ausländischer Herkunft? Wer verpflichtet übrigens die Eltern dazu, die deutsche Sprache zu erlernen?
S. 123f (Förderung)
Sabine Czerny beschreibt, wie Kinder innerhalb der Schule gefördert werden. Die Individualität bleibt nach Aussage der Autorin auf der Strecke.
Das muss ich leider bezogen auf meine Schulform bestätigen. Der Wunsch der Politik nach Inklusion sowie Integration und damit sehr heterogenen Klassen mag ja berechtigt erscheinen. Allerdings müssen dann auch die Rahmenbedingungen stimmen. Wenn der Hintergedanke des (längeren) gemeinsamen Lernens (was Kinder mit besonderem Förderbedarf mit einschließt) der ist, die teueren Förderschulen zu schließen und die ach so unbeliebten Hauptschulen ebenfalls und statt dessen ab und zu einen Förderschullehrer in die Regelschule zu schicken bzw. von der grandiosen individuellen Förderung zu fabulieren, dann muss ich das ablehnen. Wie soll das in Klassen mit 29 Kindern und einer Lehrkraft funktionieren? Ach ja, ab und zu werden die “Förderkinder” ja herausgenommen und extra betreut.
S. 127
Die Autorin beschreibt den “Normalzustand”, mit dem jede Lehrkraft heute zu kämpfen hat: unerzogene Kinder, die eine defizitäre Arbeitshaltung zeigen.
Um es mit John Hattie zu sagen:
Die Aufgabe von Eltern und Großeltern besteht darin, die Liebe zum Lernen zu wecken. Zu zeigen, dass es ein Geschenk sein kann, auch mal zu wanken, dass Fehler und Irrtümer Chancen sein können.
https://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/interview-paedagogik-star-john-hattie-eltern-muessen-die-liebe-zum-lernen-wecken-id70622496.html
Nur dann kann ich als Lehrer darauf aufbauen. Statt dessen habe ich manchmal (öfter?) die Eltern als „Gegner“ meiner Arbeit.
Die Schulpolitik, die den Elternwillen stetig stärkt und gleichzeitig den Lehrern die Basis für erfolgreiches Arbeiten entzieht, darf hier als Schuldige genannt werden. Es gibt in der Elternschaft einfach deutlich mehr Wählerstimmen als in der Lehrerschaft, letztere haben dank des Beamtenstatus wenige bis gar keine Möglichkeiten, ihrem Unmut Luft zu machen. Fluch und Segen zugleich …
S. 131
Die Lehrerarbeitszeiten sind immer wieder ein Thema. Czerny beschreibt den „Maximalzustand“. Es gibt innerhalb der Lehrkräfte große Unterschiede, die nicht allein im individuellen Fleiß begründet sind. Der Arbeitsaufwand ist abhängig vom Fach oder davon, ob eine Lehrerin eine Klassenleitung übernommen hat. Ein mittlerweile erschwerender Faktor sind zunehmend schlechtere Lehrbücher und sonstige Publikationen der Schulbuchverlage.
Richtig ist auch aus meiner Sicht, dass bei vielen Lehrkräften, die ihren Job ernst nehmen (ja, es sind wirklich viele!) eine 40-Stunden-Woche eher illusorisch ist, selbst wenn man die Ferienzeit gegenrechnet, die teilweise davon geprägt ist, Klausuren zu korrigieren oder Unterricht vorzubereiten.
S. 136
Die Autorin beschreibt den Arbeitsalltag als „Potemkinsche Dörfer“. Wichtig sei die Einhaltung der Vorgaben, da ja jederzeit der Schulrat unangekündigt auftauchen könnte und keine Lehrkraft dann schlecht dastehen möchte. Das geht soweit, dass Eintragungen bspw. im Wochenplan einfach vorgenommen werden, ohne dass dies auch gemacht worden sei. Die Beschreibung dessen, was Lehrkräfte heutzutage ertragen müssen, erinnert sehr an die autoritäre Zeit in der ehemaligen DDR – nämlich die totale Überwachung.
Ich frage mich erneut, an welcher Schule Czerny unterrichtet, wenn sie beschreibt, wie kritische Lehrkräfte teilweise sogar schikaniert werden, wie ihnen sogar Fehlverhalten angedichtet wird. Ein Schulrat wird als Volltrottel in Sachen Personalführung hingestellt, der Rektor verhält sich unangemessen (indem er nach Aussage der Autorin Kinder angeschrien hätte). Eine andere Rektorin habe kein Pflaster angeschafft, weil es zu teuer sei.
Ihre Kritik habe nun dazu geführt, dass ihr Unterricht seither als schlecht galt.
S. 140
Wie Lehrer kleingehalten werden – auch ich kann ein Lied davon singen. Es gibt Schulleiter und Dezernenten, die von Personalführung nichts verstehen und sich hinter Titel, Anzug und Amtszimmer verstecken. Das es sich hier um ein grundsätzliches Problem handelt, kann ich allerdings überhaupt nicht bestätigen.
Die von Czerny beschriebenen Maßnahmen sind niemals allgegenwärtig und schon gar nicht unbegründet.
Remonstrationsbriefe erscheinen als allgegenwärtig, so wie die Autorin die Sache beschreibt. Das ist in meinen Augen Schwarzmalerei. Ich habe an meinem Dienstort Kontakte zu vielen Lehrkräften, Dezernenten, Schulleitern usw. Über derartige Dinge weiß niemand zu berichten.
BTW: In jedem Kollegium (ohne dies für Sabine Czerny zu unterstellen) gibt es „schwarze Schafe“. Etwas anderes anzunehmen, halte ich für Realitätsverweigerung. Hinzu kommt, dass es zwischen Schulleitung und Kollegium naturgegeben immer wieder zu Konflikten kommt, das ist völlig normal. Dass dies aber immer gleich zu dem beschriebenen „Worst-Case-Szenario“ führt, ist an den Haaren herbeigezogen.
Die Aussagen zum Personalrat, der aus Schulleitern besteht und denen an den Schulen quasi zum Mund geredet wird, sind völlig überzogen. „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“ – so kann man die Welt natürlich betrachten, ob dem so ist, sei dahingestellt.
Manchmal erlebt man es noch, dass die Schulleitung die Arbeit der Lehrer anerkennt. […] Auf persönliche Umstände wird selten Rücksicht genommen.
S. 142
Woher nimmt Czerny diese Weisheiten? Der Rückschluss vom Einzelfall auf die Allgemeinheit ist schlicht falsch!
S. 143
Die Bürokratie nimmt den Lehrkräften viel zu viel Zeit und Energie weg – ich stimme uneingeschränkt zu.
Qualitätsanalysen, Standardsicherung (z. B. VERA 8 oder PISA) reduzieren Schule auf Bögen mit Multiple-Choice-Fragen. Lehrkräfte im Studium werden ebenfalls nach ECTS beurteilt, der Umgang mit Kindern spielt da keine Rolle.
Die Klassen sind zahlenmäßig zu groß, der Lehrplan zu voll.
Hier wäre die Schulpolitik gefragt – die interessiert sich aber nicht wirklich für die Realität an den Schulen.
Das Thema Lehrermangel ist letztlich ein hausgemachtes und verstärkt die Probleme natürlich noch. Zum einen herrscht an vielen Schulen Unterbesetzung, zum anderen werden die Lücken teilweise durch Seiteneinstieg geschlossen. Wobei so mancher Seiteneinsteiger der bessere Lehrer ist…
S. 154
Dass viele Kinder teilweise minimale schulische Anforderungen nicht mehr erfüllen können, nicht mehr fundiert rechnen, schreiben und lesen lernen, liegt nicht daran, dass sie das nicht könnten, sondern dass ihnen durch die ständigen Verweise auf Fehler und Defizite eingebläut wird, unfähig zu sein und sie es irgendwann glauben. Bereits in der zweiten Klasse, da sind die Kinder gerade sieben Jahre alt, sind einige von ihnen fest davon überzeugt, dass sie nicht rechnen oder lesen können und das auch niemals lernen werden.
S. 154
Das ist sicher Teil des Problems, fasst aber zu kurz. Es gibt weit mehr Umstände, die ein effektives Erlernen dieser Grundfertigkeiten beeinflussen, wie z. B. das (ungezügelte) Medienverhalten, die Idee mancher Eltern, alle Widrigkeiten des Lebens ihrer Kinder zu antizipieren und a priori beiseite zu räumen, um nur einige zu nennen. Wertschätzung dessen, was Kinder bereits geschafft haben, findet auch in vielen Elternhäusern gar nicht mehr statt.
Ach ja: … und Schuld sind immer die anderen!
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich damit, wie die Autorin selbst lernte und wie ihr Werdegang in den Beruf war. In zwei Informationskapiteln beschäftigt sie sich mit Aufbau und Neurophysiologie des Gehirns (vor allem geprägt durch die Ausführungen in Manfred Spitzers „Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens“ – ISBN 978-3827417237) und den Vorgängen im Gehirn beim Lernen. Zu Manfred Spitzer lohnt es sich, die teilweise kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen zu verfolgen. So hat er bspw. mit dem Begriff „digitale Demenz“ in ein Wespennest gestochen.
S. 202ff
Die Autorin folgt hier Spitzers Aussage, dass der Lernerfolg mit positiven Emotionen zusammenhängt. Dabei reiche schon die Chance auf Erfolg als positives Gefühl aus. Die zentrale Aufgabe der Lehrkräfte ist demzufolge, den Kindern Erfolgserlebnisse zu verschaffen.
Diese Aussage teile ich vollumfänglich. Wer kennt das nicht, dass in Prüfungssituationen, wie z. B. Klassenarbeiten auf einmal alles Wissen wie weggeputzt erscheint. Negative Emotionen wie Stress oder gar Angst hindern unser Gehirn daran, optimal zu arbeiten.
An dieser Stelle kommt die Persönlichkeit des Lehrers ins Spiel. Wie schaffe ich es, meinen Unterricht so zu gestalten, dass die negativen Emotionen bei den Kindern nicht überhand nehmen und ein Teufelskreis entsteht?
Die Autorin unterstreicht hier ganz deutlich die Rolle der Lehrkraft, die in der Lage sein muss, das betroffene Kind zum motivieren, es zu unterstützen und dabei deutlich zu machen, dass sie das Potenzial sieht, was in dem Kind steckt.
Weiterhin legt Czerny einen Schwerpunkt auf das Üben, z. B. durch
Darstellung [des Lernstoffes] in mehreren Zusammenhängen und vielen Beispielen.
S. 207
Sabine Czerny benennt folgende Faktoren für die Schule, die sich aus o. g. Feststellungen ergeben:
- Für Kinder ist es wichtig, dass sie beobachten können, wie ein Mitschüler eine Aufgabe löst und emotional mit Erfolg oder Misserfolg umgeht.
- Das Lehrer-Schüler-Verhältnis hat in beide Richtungen – positiv wie negativ – eine zentrale Bedeutung.
- Die Klassen müssen überschaubar sein, d. h. dass die Klassengröße ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist. Nur in kleinen Klassen kann sich die Lehrkraft individuell den Schülerinnen und Schülern widmen.
- Der Wechsel zwischen erklärendem Unterricht und Übungsphasen ist ein elementarer Teil des Lernerfolges.
- Die Autorin spricht sich gegen das eigenständige Erarbeiten (z. B. mittels Lehrbuch) aus. Eingeschränkt sei dies evtl. für ältere Schüler möglich.
- Lernen unter Stress, Druck und Angst funktioniert nicht.
Ich unterschreibe sämtliche genannten Punkte. Das sollte jeder Student im ersten Semester bereits erfahren.
Ich möchte kurz aus meiner Tätigkeit berichten. Zu meinen Aufgaben als Schulleiter gehört es, Lehrkräfte zu beurteilen. Zu diversen Anlässen erstelle ich dienstliche Beurteilungen, zu denen es gehört, dass ich den Unterricht der zu beurteilenden Lehrerin besuche. Im folgenden Auswertungsgespräch betrachte ich IMMER zuerst das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Für mich ist das der Dreh- und Angelpunkt unserer Tätigkeit. Eine meiner Kernaussagen dazu ist häufig bis regelmäßig, dass selbst schlecht vorbereiteter Unterricht kein Problem ist, wenn das Verhältnis der Lehrkraft zu den Kindern vertrauensvoll und von Respekt geprägt ist. Vice versa hat der bestgeplante Unterricht keine Aussicht auf Erfolg, wenn die Schüler zur Lehrkraft kein Verhältnis aufbauen können.
Bevor ich missverstanden werde: Ich breche hier keine Lanze für schlecht vorbereiteten Unterricht oder mangelhafte fachliche Ausbildung im Lehramtsstudium. Ich wollte lediglich klarmachen, welche Rolle die Persönlichkeit spielt, ein Attribut, was man übrigens nicht durch ein noch so langes Studium erwerben kann.
S. 209
Welche Erfolgsfaktoren hat Schule nun? Sabine Czerny benennt diese für alle drei Gruppen, die am Schulleben beteiligt sind.
Schüler müssen motiviert sein, Eltern sollen einen vertrauensvollen Umgang mit ihren Kindern zeigen, sie positiv bestärken, Sicherheit geben und keine übertriebene Erwartungshaltung zeigen.
Die Lehrkräfte „ersetzen“ während der Unterrichtszeit die Eltern, so dass o. g. Punkte übertragbar sind. Hinzu kommen die eigene Motiviertheit und Glaubwürdigkeit im Sinne einer Vorbildwirkung, eine angemessene Erwartungshaltung sowie ein neutraler unvoreingenommener Blick auf die Kinder.
Die Autorin weist dem vertrauensvollen Verhältnis zwischen den Erwachsenen und den Kindern – aus meiner Sicht sehr berechtigt – einen hohen Stellenwert zu.
In diesem Teil des Buches finde ich bisher die größte Schnittmenge zwischen den Gedanken und Einstellungen der Autorin und meinen eigenen. Die Ausführungen lassen zunächst offen, welche strukturellen Bedingungen (abgesehen von der Kritik an der Klassengröße) notwendig sind, sondern betrachten zunächst – abgeleitet vom wissenschaftlichen Stand hinsichtlich der Gehirnforschung – vor allem die persönlichen, gesellschaftlichen oder auch emotionalen Grundbedingungen für erfolgreiches Lernen in der Schule.
S. 212ff
Jetzt wird es konkret: Sabine Czerny äußert ihre Gedanken zu gutem Unterricht.
Leider bleibt es bei allgemeinen Aussagen zur Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, einer bereits öfter benannten Kritik am Unterricht im Gleichschritt, Selektion und „Einpressen“ in eine sechsstufige Notenskala.
S. 221
Czerny möchte den Kindern statt des „Gleichschritts“
ein Feld zur Verfügung stellen, auf dem sich alle Kinder miteinander bewegen können.
Sie bricht eine Lanze für Vielfalt und Heterogenität in den Lerngruppen als Faktor für die Persönlichkeitsentwicklung im Hinblick auf eine „echte Ausbildung auf die Welt von morgen“. Den Kindern müsse man zugestehen, dass sehr unterschiedlich lernen und daher zum gleichen Zeitpunkt nicht immer das gleiche beherrschen, langfristig sich jedoch ein Mosaik bildet, bei dem alle Kinder letztlich zum gemeinsamen Ziel kommen.
Für mich wird hier deutlich, dass Czerny Heterogenität weniger an einem IQ o. ä. festmacht denn an den unterschiedlichen Wegen, die zum Ziel führen.
Schauen wir weiter, das nächste Kapitel beschäftigt sich nun damit, wie Czerny den Unterricht ihren eigenen Ideen folgend gestaltet.
S. 228
Die Autorin berichtet von einem Zwischenfall in einer ersten Klasse, in dessen Ergebnis ein Junge den Raum verließ, nachdem er einen anderen geschlagen hatte. Czerny hat sich wohlwollend dem Geschlagenen zugewendet, der ihr dann aber zeigte, dass sie sich um den anderen Jungen kümmern möge, was die Autorin auch tat.
Czerny nimmt dieses Beispiel zum Anlass, erneut herauszustellen, wie wichtig es ist, die Kinder wahrzunehmen und ihre Sorgen zu verstehen. Hier liegt – dem stimme ich zu – großes Potenzial mit Blick auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Wir Lehrer müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Kinder uns sehr genau betrachten. Wir sind, ob wir das wollen oder nicht, Vorbilder (manchmal auch im negativen Sinne), unser Handeln hat immer eine erzieherische Komponente. Lehrkräfte sind Leitfiguren, an ihnen lernen die Kinder – sogar geschlechtsspezifisch – wie man sich in bestimmten Situationen verhält. Im Übrigen sehe ich ein großes Problem in der Unterversorgung insbesondere der Grundschulen mit männlichen Lehrkräften, was – auch im Kontext zu einer zunehmenden Zahl alleinerziehender Mütter – zu einem Ungleichgewicht im Bezug auf oben Genanntes führt. Aber das ist ein ganz anders Thema.
S. 232
Bei allem Verständnis für die Probleme und den individuellen Entwicklungsstand der Kinder bricht Czerny eine Lanze für wichtige Regeln, die der Lehrer vorgeben muss. Auch hier spielt das pädagogische Geschick eine große Rolle. Regeln bieten Sicherheit, geben den Kindern aber auch ein Stück Verantwortung in die Hand, mit den Regeln angemessen umzugehen und ggf. die Konsequenzen zu tragen.
S. 234
Hier geht es um die Lernumgebung, mit der sich schon Hilbert Meyer in seinen 10 Merkmalen guten Unterrichts beschäftigt.
Nun kann man – auch abhängig vom Alter der Kinder – verschiedener Auffassung dazu sein, was „vorbereitet“ bedeutet. In einem Punkt stimme ich der Autorin dabei vollständig zu:
Entscheidend für einen gut funktionierenden Unterrichtsvormittag ist auch ein gut funktionierendes Ordnungssystem […].
Ich sage es mal etwas salopp: Ordnung ist das halbe Leben, aber so mancher hat es sich in der anderen Hälfte recht bequem gemacht. Womit wir übrigens auch wieder bei der Vorbildfunktion des Lehrers sind.
Ein Fazit zwischendurch: Es bedürfte ganz sicher nicht erst der Studien eines John Hattie, um herauszufinden, dass ein primärer Faktor des Lernerfolges (nach Hattie DER Hauptfaktor) die Person und Persönlichkeit des Lehrers ist. In einem Beruf, der hauptsächlich auf zwischenmenschlicher Interaktion beruht, wäre es Realitätsverweigerung, etwas anders anzunehmen.
Damit ergibt sich aber auch, dass Lehrer neben einer hervorragenden fachlichen Ausbildung in ihren Unterrichtsfächern auch in den Bereichen Pädagogik und Psychologie ausgebildet werden müssen. Als Lehrer kommen damit nur Menschen in Frage, die zu den Besten gehören. Eine Ausbildung auf so breiter Basis ist nichts für Abiturientinnen mit familienplanerischem Hintergedanken. Kein akademischer Beruf ist annähernd so attraktiv im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch wenn dies ein harter Vorwurf ist, zur Wahrheit gehört einfach, dass der öffentliche Dienst nicht nur wegen der Arbeitsplatzgarantie so beliebt ist.
Falls sie nicht in einem solchen Bereich beschäftigt sind (eventuell auch als Akademiker), dann fragen Sie Ihren Arbeitgeber doch mal nach Sonderurlaub oder danach, ob Sie später zur Arbeit kommen dürfen, weil die Kita erst später öffnet. Heute ist Meeting – nein, nicht für mich, ich muss meinen Sohn aus der Grundschule abholen. Bei allem Wohlwollen mit Blick auf die Familie, aber zuallererst habe ich einen Arbeitsvertrag unterschrieben.
Ich schweife ab, zurück zum Thema!
S. 238
[…] dass Materie zu einem großen Teil Vakuum ist.
Ich muss ich als Physiker vehement widersprechen! Vakuum ist idealerweise materiefrei und realistisch (ein ideales Vakuum gibt es nur in der Vorstellung der Physiker) nahezu materiefrei. Physiker vs. Techniker… 😉
Aber darum geht es in diesem Kapitel auch gar nicht.
Die Autorin schildert, wie der Beginn eines Schultages abläuft. Deutlich wird hier, welch positives Menschenbild Czerny hat. Sie stellt die Kinder und ihre Fragen und Probleme in den Mittelpunkt ihres Handelns. Dabei gerät sie unwillkürlich an die Grenzen unseres Schulsystems, da viele der Fragen nicht lehrplanrelevant sind oder an dieser Stelle schlicht nicht geplant sind.
Die durch Lehrpläne vorgegebene Struktur ist oft konträr zu dem, was Kinder gerade jetzt interessierst. Das Problem, das sich daraus ergibt, ist, dass die Neugier der Kinder sukzessive „zerstört“ wird, wenn die immerwährende Reaktion darauf eine ist, die abweist oder verschiebt.
Auch ich erachte gerade in der Grundschule es als großes Problem, die Balance zu finden, die dem Wissensdrang der Kinder und gleichzeitig dem Lehrplan gerecht wird.
Im schulischen Alltag – auch in den weiterführenden Schulen – besteht häufig der Konflikt zwischen Lehrplan (= dienstliche Weisung) und den tatsächlichen Bedürfnissen der Kinder. Diesen Spagat zu schaffen, ist meines Erachtens eine der wichtigsten Aufgaben des Lehrers, womit wir erneut bei den o. g. bestausgebildeten Menschen sind. Die Rahmenbedingungen können wir (abgesehen von der Möglichkeit der Wahl aller paar Jahre) nicht ändern, unseren Gestaltungsspielraum innerhalb der pädagogischen Freiheit aber dennoch nutzen.
Fazit
Sabine Czerny spricht viele wichtige und kritikwürdige Aspekte der schulischen Bildung und Erziehung an. Einen Hauptgrund des Scheiterns sieht sie in der frühen Selektion nach Noten und einer damit verbundenen Zuweisung in eine bestimmte Bildungsschicht. Gleichzeitig versteht sich das Buch weder als Hommage an Gesamtschulen oder übertriebene Kritik am gegliederten Schulsystem, sondern vielmehr als berechtigte Beanstandung der gängigen Lehrmethoden und bestehenden Rahmenbedingungen im Sinne von viel zu großen Klassen oder wenig (politischer) Bereitschaft, sinnvolle neue Wege zu gehen.
Leider verfällt die Autorin in viel zu häufige Wiederholungen des bereits gesagten. Zudem fällt auf, dass sie die Thematik aus der Sicht der Grundschullehrerin betrachtet, der nach eigener Aussage wegen ihrer Ansätze und damit verbundenen Handlungsweisen immer wieder Steine in den Weg gelegt wurden.
Ein sachlicher Blick auf das System, der ggf. mit empirisch belegten Aussagen ergänzt ist, würde der Wichtigkeit des Themas sicher besser gerecht werden.
Für mich war die Lektüre bereichernd, da ich zum einen mit anderen Ansichten konfrontiert wurde und zum anderen zur Auseinandersetzung mit dem Thema gezwungen war. So konnte ich viele neue Aspekte der Betrachtung dieses Schulsystems tiefer beleuchten, um meine Meinung zu festigen oder an einigen Stellen auch zu ändern.
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